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Der Willkür ausgeliefert

„Und nun“, sprach der Liebe Gott in seinem Versuchslabor, „brauche ich noch ein Elixier für eine ganz besondere Art von Mensch.“ Er nahm dem Graf Koks von Gasanstalt ein bisschen von seiner Arroganz, dem Baron von Münchhausen eines seiner Lügengene, dem Marquis de Sade ein klitzekleines Stück Sadismus weg. Vermengte diese Dinge mit den Chromosomen des Faultiers, gab noch ein paar Spritzer Messie-Mentalität dazu und eine Prise Dummdummkraut sollte dafür sorgen, dass diese Wesen nicht intelligenter als Brot sein dürften.

Millionen von Jahren stand das Reagenzglas mit der unappetitlichen Brühe ganz hinten im Schrank, bis es im Jahre 2004 von der deutschen Regierung angefordert wurde. Im Rahmen der Umbenennung des Arbeitsamtes in Agentur für Arbeit war auch eine Generalüberholung der MitarbeiterInnen fällig. Alle schluckten ein Löffelchen der Medizin und schon waren sie für ihre neuen Aufgaben bestens gerüstet.

Letzten Sommer meldete sich die Liebste arbeitslos. Es hatte sich viel geändert in den letzten Jahren. Das Arbeitsamt hieß nicht mehr Arbeitsamt, sondern Agentur für Arbeit. Die Arbeitslosen waren mittlerweile von Störfaktoren zu KundInnen aufgestiegen. Der Ton hatte sich von ruppig-pampig-desinteressiert zu freundlich-höflich-desinteressiert verändert. Manchmal nahm sogar jemand den Telefonhörer ab und zeigte Anzeichen von intelligentem Leben, was vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre.

Kleinkleckersdorf liegt sozusagen in einem Dreilandkreiseeck. Wir sind Landkreis A, einige Dörfer weiter in die eine Richtung beginnt Landkreis B, und in die andere Richtung Landkreis C. Mal ganz abgesehen von den gar nicht so weit entfernten Bundesländern Hessen und Bayern.

„Wie weit wären Sie denn bereit zu fahren?“ fragte die Arbeitsvermittlerin, und die Liebste gab nach kurzem Überlegen einen Radius von 100 km an. Schließlich wird von Arbeitslosen ja Mobilität verlangt. 100 km, das hieß Landkreis A, B, C, sowie ein Zipfelchen Hessen und Bayern.

„Alles schön und gut“, stöhnte die Vermittlerin, „aber die Software nimmt leider nur zwei Regionen an. Oder Sie müssen sich bundesweit bewerben….“, fügte sie hinzu.

Die Liebste brauchte eine Weile, bis sie das richtig verstanden hatte. „Ich bekomme von ihnen also nur Vorschläge aus Landkreis A und B, auch wenn C ebenfalls in meiner Reichweite liegt?“

„Oder Sie bewerben sich nicht in einem Umkreis von 100 km, sondern bundesweit. Aber dann müssen Sie auch Vorstellungsgespräche in Norddeutschland annehmen!“

Das wollte die Liebste nun nicht gerade und auf Anraten der Vermittlerin ließ sie sich für Landkreis B und C eintragen, weil „dort die Industrie ist“. Monate später stellte sich heraus, dass die Industrie, für die sich die Liebste interessierte, mehr in Landkreis A vertreten war und die Geschichte mit der Software und Landkreisen sowieso aus dem Reich der Märchen kam.

Was aber auch egal war, denn die Aktivität des Amtes beschränkte sich auf Anrufe alle sechs, sieben Wochen – „Kommen Sie bloß nicht persönlich vorbei, wir rufen Sie an!“.

Die Liebste wurde gefragt, ob sie denn regelmäßig die Stellenanzeigen in der Wochendausgaben der Zeitungen durchsuche und sich auch brav bewerbe. Man selbst habe allerdings immer noch keine Stelle für sie gefunden – leider, leider – und wisse eigentlich auch nicht, wo sie sich bewerben sollte, denn es gäbe ja auch keine Stellen, aber bewerben müsse sie sich.

Nach dem dritten Anruf dieser Art begann ich meine Vermutung mit den Anzeichen von intelligentem Leben wieder zurück zu nehmen. Die Liebste schickte Bewerbungen weg und beantragte, die entsprechenden Kosten ersetzt zu bekommen. Dieses Amt, das sich nun Agentur nennt, nahm diese Belege für den Eifer ihres Schützlings dankend entgegen und warf sie in den nächsten Papierkorb.

Dann kam Hartz IV. Die Liebste hatte immer noch keinen Job und musste neue Formulare ausfüllen – ich übrigens auch, denn das oberste Motto von Hartz IV ist „Mitgefangen, mitgehangen“. Bedarfsgemeinschaft nennt sich das übersetzt. Oma hatte Glück, sie segnete gerade noch rechtzeitig das Zeitliche, bevor auch sie in die Fänge dieser Agentur geraten konnte.

Als die Liebste bei dieser Gelegenheit zum fünftem Mal nach der Erstattung ihrer Bewerbungskosten fragte, erhielt sie eine Abfuhr. Die SachbearbeiterInnen vom Arbeitslosengeld hatten die Akte bereits geschlossen. Die SachbearbeiterInnen von Hartz IV interessierten sich nicht dafür, was vor ihrer Zuständigkeit passiert war. Der schriftliche Protest der Liebsten zu Händen beider Abteilungen ist seit einem halben Jahr in unbeantwortet.

Einige Monate hörten und sahen wir nichts mehr von der Agentur. Selbst die Anrufe blieben aus und unsere Anfragen wurden schlicht ignoriert.

Dann sollten wir wieder Formulare ausfüllen. Nicht mehr so viele wie noch vor ein paar Monaten, aber immer noch genug. Als danach wieder einige Wochen verstrichen waren, versuchte die Liebste bei der Amtsagentur anzurufen. Vier Tage lang, täglich mehrere Stunden. Entweder war besetzt oder es lief ein Band: „Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an blablabla…“

Also packte sie zwei Rücksäcke mit Unterlagen, sie wollte keinesfalls Gefahr laufen, das eine wichtige Papier dann nicht dabei zu haben, und fuhr hin. Eine riesige Schlange staute sich bereits vor dem Empfangstresen. Ein aufgeregter Mann mit zornrotem Kopf verlangte immer wieder, einen Vorgesetzen sprechen zu können und erhielt die stereotype Auskunft: Ein Vorgesetzter befinde sich nicht im Haus, er solle nach Heidelberg fahren oder am besten gleich nach Nürnberg.

Nach zwei Stunden erreichte die Liebste endlich eine Sachbearbeiterin, die ihr sehr freundlich erklärte, die Anträge stauten sich bereits seit Monaten. Allein sie habe ca. 700 Stück da liegen, die sie der Reihe nach abarbeite. Akten seien derzeit nicht zu finden, sie könnten überall und nirgends sein, seien nach keinerlei System abgelegt, und es bleibe nichts anderes übrig, als zu warten.
Wie die Liebste, wie wir, wie all die anderen 700 betroffenen Haushalte allein dieser Sachbearbeiterin das finanziell überleben sollten, wurde nicht gesagt.

Weitere sieben Wochen, vier neuer persönlicher Vorsprechen mit sämtlichen Unterlagen und einem Telefonat später – alle anderen Telefonversuche waren am Besetztzeichen gescheitert und dieses eine kam auch nur aus Versehen zustande. O-Ton: „Ich sitze nur hier. Auskünfte kann ich keine erteilen!“ – erreichte uns gestern ein Schreiben: „Sie haben versäumt, ihren Unterlagen das Formular xyz beilegen! Reichen Sie das unverzüglich nach oder die Leistungen* werden gestrichen!“

* die bisher nicht erhaltenen

 

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