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Dürers betende Hände

Als Kind glaubte ich, der größte Unterschied zwischen alten und jungen Menschen sei die Art, wie sie die Zeitung lesen. Alte Menschen lesen die Zeitung von hinten nach vorne. Erst die Todesanzeigen, dann die Politik. Solange nur meine Großeltern das taten, war die Welt noch in Ordnung. Als meine Eltern damit anfingen, wurde es schon kritisch. Heute schlage auch ich die Zeitung erst hinten auf und frage mich, wie alt ich nun eigentlich bin.


Immer häufiger kenne ich die Namen der Toten und Beileidskarten auf Vorrat gehören inzwischen zum festen Sortiment meiner Unterlagen. Meist handelt es sich um die Eltern ehemaliger KlassenkameradInnen. Aber gelegentlich finde ich auch schon die Namen meines Jahrgangs. Verflucht noch mal, mit dieser war ich doch im Konfirmandenunterricht gewesen. Wie kann sie tot sein? Wir sind doch beinah noch Jugendliche, oder etwa nicht?

»Unsere Reise nahm in Jordanien einen anderen Weg als geplant«, lese ich am Wochenende. Ich muss es zweimal lesen, bis ich begreife, dass der Tod von Freunden aus Jugendtagen anzeigt wird. Lange habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Fast ebenso lange wollte ich mich mal nach ihrer aktuellen Adresse erkundigen. Aber so wichtig war es nicht und es hatte ja Zeit. Wir sind ja noch so jung und lange nicht so alt, dass wir den Erinnerungsaustausch brauchen.

Was haben sie bloß all die Jahre getrieben? Im Internet über Google finde ich die Antwort. Sie sind gereist. Wunderschöne Reiseberichte über das kalte Sibirien und heiße Asien haben sie ins Net gestellt. Auch ihre Adresse, es wäre ganz einfach gewesen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen.

Seit ich die Todesanzeigen regelmäßig lese, weiß ich auch, dass wir Deutschen ein Volk von geschmacklosen und verlogenen Einfaltspinseln sind. Anders lassen sich die betenden Hände Dürers auf jeder zweiten Anzeige nicht erklären.

»Meine geliebte Mutter«, schreibt einer, der Tage vorher noch am Stammtisch laut fragte, warum die Alte nicht endlich verrecke.

»Mein innigst geliebter Mann und Vater«, lässt Frau X in die Zeitung setzen. Er mag ja ihr Mann gewesen sein, aber gleichzeitig auch ihr Vater?

»Wir danken Pfarrer Y für seine tröstende Worte«, verkündet eine Familie. Pfarrer Y war zum Zeitpunkt des Todesfalls im Urlaub gewesen und konnte nicht getröstet haben. Aber er hätte, wenn er da gewesen wäre. Das scheint wohl die Logik zu sein. Oder weshalb sonst wird ihm gedankt?

Gedankt wird auch vielen anderen. Den Ärzten, dem Pflegepersonal, dem Musikverein, dem Chef, dem Bürgermeister. Alle Honoratioren, die mit den inzwischen wehrlosen Toten in Kontakt gewesen waren, werden aufgezählt. Lieber einem zu viel danken als einer zu wenig lautet die Devise. Unbedankte Honoratioren könnten sich vielleicht an den Überlebenden rächen. Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, dass der Arzt vielleicht gepfuscht und der Musikverein stets die falsche Musik gespielt hat. Mal ganz abgesehen von dem ehemaligen Chef, der ein Sklaventreiber gewesen war.

Herr B macht es kurz und bündig und unterschreibt die Anzeige im Namen aller Angehörigen. Bei Frau Z hingegen unterschreiben alle, die auch nur im entferntesten mit ihr verwandt gewesen waren. Damit die Bevölkerung weiß, wer was gewesen war, setzen sie hinter ihre Namen den Verwandtschaftsgrad.

Familie Meier setzt den Verwandtschaftsgrad in die erste Zeile. »Unsere Mutter, Oma, Schwester, Tante, Schwägerin, Nichte, Cousine« heißt es. Erst dann kommt der Name der Toten. »Geborene Müller, verwitwete Kunz, geschiedene Hinz«, steht darunter.

»Ich wusste gar nicht, dass sie drei mal geheiratet hatte«, staunt die Liebste und gemeinsam überlegen wir, wer der Herr Hinz wohl gewesen war. Im Dorf gibt es niemanden, der so heißt. Die Tote wollte die geschiedene Ehe wohl geheim halten und hatte die Rechnung ohne ihre trauernden Angehörigen gemacht.

Die Toten wurden fast ausnahmslos geliebt. Mein geliebter Mann, mein innig geliebter Mann, mein innigst geliebter Mann, es scheint einen Wettbewerb zu geben, wer mehr geliebt wurde. Fromm und fleißig waren sie, die teuren Toten.

Warum finde ich eigentlich nie eine Anzeige mit dem Text »Er war ein Schweinehund und hat sein Hab und Gut versoffen.« Stattdessen Bibelsprüche bei Menschen, die ihr Leben lang eine Kirche immer nur von außen gesehen haben. Nur Herr Lüdenscheid gibt posthum bekannt: »Ich bekenne, ich habe gelebt!«

Frau E ist fast hundert Jahre alt geworden und hat zwei Weltkriege, Wirtschaftskrisen und Trümmerzeiten überstanden. In der Todesanzeige wird sie auf ihr Mutterdasein reduziert. »Ein treu sorgendes Mutterherz hat aufgehört zu schlagen« verkündet die Nachkommenschaft und findet es wahrscheinlich schade, dass es nicht mehr politisch korrekt ist, das Mutterkreuz zu erwähnen.

»Sie ging still ohne ein Wort«, behaupteten zwei Schwestern über ihre Mutter. Sie ging nicht ohne ein Wort. Sie sagte genau, was sie wollte, nämlich sterben. Ich habe es selbst gehört. Viele versterben plötzlich und erwartet. Auch der Xaver, der ein gesegnetes Alter von neunundneunzig Jahren erreicht hat. Wie lange hätte er denn eigentlich noch leben sollen, damit sein Tod nicht plötzlich und unerwartet kommt?

Richtig interessant wird es, wenn für eine Person mehrere Anzeigen geschaltet werden. Die gesetzliche Blutsverwandtschaft gegen die illegalen LebensgefährtInnen. Das geschieht öfter als frau glauben sollte. Zwanzig Jahre haben sie sich nicht mehr gesehen, aber beim Tod haben die Geschwister eines Schwulen mehr zu sagen als der Mann, der zwanzig Jahre mit ihm zusammengelebt hat. Welch Trost für die verklemmten Heteraos!

»Warte nur bis zu tot bist, dann wirst du wieder hetero!« Wenigstens in der Todesanzeige mit den betenden Händen von Dürer.

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