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Japan Notstand in einer Atomanlage, Erinnerungen an den Albtraum Tschernobyl

Bis meine Eltern mich 1969 in ein »Dorf« entführten, hatte ich noch nie etwas von einem Atomkraftwerk gehört. Oder besser: Nicht bewusst gehört, denn mit dem Wort »Kraftwerk« bin ich aufgewachsen. Mein Opa machte Strom, mein Vater machte Strom, wenigstens wurden uns Kindern ihre Berufe so erklärt.

Mit 13 Jahren kam ich dann nach Mosbach, in das Dorf, wie meine Mutter diese Kleinstadt jahrelang hartnäckig bezeichnete. »Wir fahren mal runter ins Dorf und gehen einkaufen«, pflegte sie immer zu sagen.

Dass in der Nähe das Atomkraftwerk Obrigheim gab, interessierte mich zunächst überhaupt nicht. Denn mein Vater machte mittlerweile keinen Strom mehr und musste deshalb auch nicht mehr zu jeder Tages- und Nachtzeit ins Werk rennen, um »Kessel anzufahren«.

In der Schule fragte mal eine Mitschülerin nach der Gefährlichkeit der Atomenergie, daran kann ich mich noch gut erinnern. Dieses Mädchen erkundigte sich immer nach so komischen Dingen. Das lag an ihrem Elternhaus, dort wurde vegetarisch gegessen und man machte sich Sorgen um Gottes Schöpfung.

Sie stellte die Frage im Physikunterricht eines ehrwürdigen Gymnasiums. Wir erfuhren, dass wir vor dem Atomkraftwerk Obrigheim keine Angst haben müssten. Selbst wenn dieses in Luft flöge, bräuchten wir uns Mosbach keine Gedanken deswegen zu machen. Das Städtchen liege in einem Tal, die Druckwelle ginge darüber hinweg und würde erst Heilbronn dem Erdboden gleichmachen. Wir waren beruhigt und lachten noch nicht einmal über die Feststellung des Lehrers, wie schlau Obrigheim geplant worden sei. Die Badener hätten den Nutzen und im Katastrophenfall ginge es den Schwaben an den Kragen.

In der 9. oder 10. Klasse, so richtig weiß ich das nicht mehr, bekamen wir einen neuen Physiklehrer. Es ging das Gerücht um, er sei gar kein richtiger Lehrer, sondern ein Physiker, der zu viel Strahlung abbekommen habe und deshalb nun eine Auszeit von seinem Arbeitsplatz in einem Atomkraftwerk nehmen müsste. Das könnte sogar stimmen, denn sein Unterricht war danach.

Zu Beginn des Schuljahres bekamen wir eine paarweise eine Hausaufgabe, mit der wir uns bis zu den Zeugnissen beschäftigen sollten. Thema: Atomkraft in allen Varianten. Zwei Jungen mussten sich z. B. mit Atombomben beschäftigen. Als sie ihren Vortrag hielten, erklärte uns ein anderer Mitschüler, Kriege seien sowieso nötig, um die Überbevölkerung in den Griff zu bekommen.

Welches Thema mir und meiner Banknachbarin zugeteilt worden war, weiß ich nicht mehr. Wir hatten beide keine Lust, uns damit zu beschäftigen und überließen es meinem Vater, die Arbeit zu schreiben. Bei dieser Gelegenheit erzählte er ein paar Anekdötchen aus seiner Zeit beim Bayernwerk und weshalb wir in Deutschland noch ganz viele Atomkraftwerke bauen sollten.

Auf der Suche nach meiner ersten eigenen Wohnung besichtigten wir auch eine Einliegerwohnung in Binau. Die extrem hohe Miete begründete der Makler mit dem »freien Blick auf das Atomkraft Obrigheim«.

1986 war ich Mutter von zwei kleinen Kindern. Als in den Nachrichten die ersten diffusen Meldungen von einem Störfall in einem sowjetischen Atomkraftwerk gebracht wurden, hörte mein Vater sich das zwei Tage lang an und konstatierte dann: »Das muss ein Gau gewesen sein.«.

Nach fünf Tagen, noch immer wurde verniedlichend von einem »Störfall« berichtet, rief ich bei der grünen Kreisgeschäftsstelle an und fragte nach, ob man dort vielleicht mehr wisse und was deswegen geplant sei.

Zwei Tage später stand ich zusammen mit einer anderen Mutter in der Fußgängerzone der norddeutschen Kleinstadt, in der ich damals lebte, und verteilte Infomaterial zum Thema Atomkraft. Wir wollten wenigstens etwas tun, wenn sich schon sonst niemand dazu äußern wollte. »Naive Panikmacherinnen« war noch eine der netteren Beschimpfungen, die wir uns anhören mussten. Und natürlich: »Die Russen und ihr Schrott, bei uns kann so was doch gar nicht passieren.«

Es sollte noch drei Tage dauern, bis endlich alle wussten , was in Tschernobyl passiert war. Eine Freundin packte ihre Klamotten ein, setzte ihren Sohn ins Auto und flüchtete nach Portugal. Eine Nachbarin kaufte den halben Aldi leer, um einen Vorrat an unbelasteten Lebensmitteln für die nächsten Monate zu haben. Ein Herr, mit dem ich einmal liiert gewesen war, bunkerte auf seinem Kleiderschrank zwei riesige Laibe Emmentaler Käse.

Auf dem Weg zur Arbeit setzte ich wie üblich meine Tochter beim Kindergarten ab. Die Leiterin hatte bereits auf uns gewartet. Sie umklammerte meine Oberarme und schrie mich an: »Sie sind bei den Grünen. Sie müssen mir helfen. Dürfen die Kinder in den Außenbereich? Muss der Sand ausgewechselt werden? Ich telefoniere und telefoniere und niemand will mir weiterhelfen. Ich habe doch die Verantwortung für 90 Kinder!«

Satt zu arbeiten, hockte ich nun auch erst mal am Telefon und erklärte grünen Gemeinderäten, weshalb sie sich bitte aus ihren Betten erheben und um diese Dinge kümmern sollen. In der Kreisgeschäftsstelle brachen zeitweise die Telefonleitungen zusammen. Plötzlich galten die Spinner und Panikmacher der Anti-Atomkraft-Bewegung als die einzige glaubwürdige Informationsquelle. Verzweifelte Mütter heulten in den Hörer: »Was soll ich meinem Kleinkind denn nun füttern? Die Milch ist doch verseucht!«

»Weiß ich auch nicht«, antwortete ihnen der Geschäftsführer. »Aber ich gebe Ihnen mal die Telefonnummer einer Frau von uns, die auch zwei kleine Kinder hat. Vielleicht kann die Ihnen was sagen.« Ich fand erst nach zwei Tagen heraus, weshalb plötzlich ununterbrochen vollkommen aufgelöste Mütter bei mir anriefen. Helfen konnte ich ihnen auch nicht, wir konnten uns nur gegenseitig das Leid klagen.

Ein Nachbarsjunge ging zur Kommunion, am Nachmittag traf ich zufällig auf seinen dreijährigen Bruder. »Wir haben ganz tolle Sachen gegessen«, erzählte er und beendete seinen Bericht mit einem richtig stolzen »… und alles war radioaktiv verseucht!«

Sommerurlaub in Schweden, ich hatte mir es so wunderbar vorgestellte, mit meinen Kindern endlich einmal richtige freie Natur zu genießen. Stattdessen musste ich sie nicht nur 1986, sondern sogar noch Jahre später ständig überwachen und ermahnen: »Keine Beeren pflücken, die sind immer noch verseucht.«

All den Menschen, die sich nach Tschernobyl, nach den vielen Toten, nach den Kindern, die mit zwei Köpfen, aber ohne Arme geboren wurden, nach all dem, was wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren an Wissen zusammengetragen haben, immer noch für Atomkraftwerke einsetzen, denen wünsche meinen Albtraum jener Tage und Wochen Nacht für Nacht, solange bis sie es begriffen haben.

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