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Jede Frau ist lesbisch

Am 19. September 2010 ist Jill Johnston im Alter von 81 Jahren gestorben.

»Seit Steffi damals Jill Johnston gelesen hat, ist sie vollkommen übergeschnappt. ‚Jede Frau ist lesbisch. Schön wär ‘s.«

Jana hatte natürlich recht. Steffis stures Festhalten an dieser Theorie konnte ich auch nicht mehr nachvollziehen. Als ich nach meinem Coming Out das erste Mal etwas von Jill Johnston gehört hatte, fand ich diesen Spruch natürlich auch ganz toll. Bis ich dann dieses Buch in die Hand bekam und feststellte, dass es seitenlang nur aus diesem einen Satz bestand: Jede Frau ist lesbisch, nur weiß sie es nicht.«

Aus »Die tote Krankenschwester«, erschienen 2000.

Es passt zu Billes Biografie, den Inhalt des berühmten Buches auf diesen einen Satz zu reduzieren. Heute würde ich es allerdings ganz sicher nicht mehr bei einem Namen und einem Satz belassen, sondern mindestens noch den Titel »Lesben Nation« mit Verlag und ISBN Nummer in einer Fußnote benennen.

Warum?

Zu der Zeit, als ich den Krimi schrieb, war ich davon überzeugt, dass alle Leserinnen oder wenigstens 90 % von ihnen sofort wissen, auf wen oder was Billie und Jana hier anspielen und weitere Erklärungen völlig unnötig sind.

Heute?

Viele Lesben haben keine Ahnung mehr, wer Jill Johnston gewesen ist und was sie (neben vielen anderen) geschrieben hat: The Lesbian Nation, einen Schlüsseltext der lesbisch-feministischen Bewegung.

Buchcover Lesben Nation Die feministische Lösung

Nach Ansicht einer Freundin hängt dieses Unwissen mit dem Unterschied zwischen der lesbischen Identität und der lesbischen Aktivität zusammen, der an einer Stelle des Buches erklärt wird. Diesen Unterschied gäbe es heute mehr denn je, meinte sie und fügte hinzu: »Lesarion steht für lesbische Aktivität ohne jeden politischen Anspruch und der Lesbenring für lesbische Identität.«

Weshalb meine Protagonistin Billie sich so verkürzt ausdrückt, liegt an Sätzen wie diesen:

»Alle Frauen sind Lesbierinnen, außer denen, die es nicht wissen, natürlich sind die‘s auch, wissen es nur nicht, jedenfalls bin ich eine Frau die Lesbierin ist, weil ich eine Frau bin und eine Frau die sich selbst ursprünglich liebt, die andere Frauen ist, ist eine Lesbierin, eine Frau, die Frauen liebt …« usw.

Bandwurmsätze ohne Kommata, Assoziationsketten, Gedankensprünge, Tagebucheinträge, Artikel … es kostet Nerven, sich durch dieses Buch zu arbeiten.

Das liege an der miserablen deutschen Übersetzung, erklärte mir mal eine Frau. Ob sie recht hat, kann ich nicht beurteilen. Meine Fähigkeiten lange angloamerikanische Texte im Original zu lesen, sind begrenzt, mir fehlt das Gefühl für die Feinheiten. Als ich vor Jahren im Berliner Spinnboden einmal den Originaltext in der Hand hatte, kam er mir ebenso chaotisch vor wie die deutsche Übersetzung.

Dennoch war Jill Johnstons Buch mein Aha-Erlebnis, in Bezug auf mein Leben als feministische Lesbe noch heute das wichtigste Buch in meinem Regal.

In »Lesben Nation« fand ich endlich die Erklärungen, nach denen ich so lange bereits gesucht hatte. Antworten auf Fragen, die mir die heterosexuell dominierte Frauenbewegung nicht geben konnte und teilweise auch nicht geben wollte.

»Alle feministischen Ziele – wie Abtreibung, Kinderbetreuung, Prostitution, politische Vertretung, gleicher Lohn sind Ziele in Bezug auf den Mann«,

schreibt Jill Johnston und erklärt damit, weshalb heterosexuelle und lesbische Feministinnen die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachten und die Zusammenarbeit oft so schwierig bzw. an bestimmten Punkten immer wieder scheitert.

»Ich kann zwischen meiner Unterdrückung als Frau und der als Lesbe nicht unterscheiden.«

Welche Lesbe, die sich darüber ernsthaft Gedanken gemacht, kann das denn heute auf Anhieb? Jeder dumme Spruch, jede Diskriminierung muss erst mal darauf abgeklopft werden, ob es nun der Frau, der Lesbe oder beiden galt. Heterosexuelle Feministinnen halten sich aus dieser Problematik meist heraus, viele realisieren nicht einmal, was passiert. Wenn sie sich selbst als Frau nicht betroffen fühlen, gilt das ihrer Meinung nach natürlich auch für Lesben – wie sich hier auf der Karnele gerade erst bei den Kommentaren zum Thema »Lesben und Gynäkologie« gezeigt hat.

»Die befreite politische Lesbierin ist nach üblichem Maßstab natürlich keine Frau mehr.«

Weil Frau sein immer im Zusammenhang mit Mann sein definiert wird …

Ich bin den Frauen vom Amazonen Frauenverlag, die 1976 mit viel Engagement und wenig Geld dieses Buch in Deutschland herausgebracht haben, sehr dankbar. Vielleicht findet sich ja mal Verlag, der das Risiko mit einer neuen Auflage eingehen wird.

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