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Meine Urgroßmutter, die nicht um ihren Sohn trauern durfte

»Erzählungen über Bombenangriffe, Tote, Flucht und plötzlich verschwundene Nachbarn waren in meiner Kindheit Normalität. Je nach Zusammensetzung am sonntäglichen Kaffeetisch wurde mal mehr über das eine oder das andere geredet. Doch beinah ausnahmslos landeten die Gespräche immer bei Angst und Gewalt.«

Ein Absatz aus dem Beitrag »1945 war erst gestern«, den ich im Sommer 2010 geschrieben habe. Anlass war der Fund einer Fliegerbombe gewesen, eigentlich ein Vorkommnis, das sich seit Jahrzehnten beinah wöchentlich irgendwo in Deutschland wiederholt und bei vielen Menschen traumatische Erinnerungen weckt.

Meine Urgroßmutter väterlicherseits gehörte mit den ersten Toten des Zweiten Weltkriegs. Einer ihrer Söhne war noch ein Jugendlicher gewesen, als man ihn in eine Uniform steckte und für »Kaiser und Vaterland« in den Ersten Weltkrieg schickte. Sein Schicksal konnte nie geklärt werden, sicher ist er irgendwo »gefallen«. Offiziell jedoch galt er als vermisst und meine Urgroßmutter hatte nie aufgehört, auf ein Wunder und seine Rückkehr zu hoffen. Sicher auch, weil sie nicht öffentlich um ihn hätte trauern dürfen … oder nur »voller Stolz« …

In den 21 Jahren zwischen dem Ende Ersten Weltkriegs und ihrem Tod drehte sich ihr ganzes Leben um den vermissten Sohn. Auf der Straße rannte sie fremden Männern nach, weil sie glaubte, in ihnen ihren Peter erkannt zu haben. Sie deckte für ihn den Tisch, feierte seinen Geburtstag und strickte unzählige Paare Socken und Pullover, damit er was Warmes zum Anziehen hatte.

Als sie im August 1939 von der Mobilmachung erfuhr, schon wieder junge Männer »eingezogen« wurden und somit klar war, dass es erneut zu einem Krieg kommen würde, »drehte sie endgültig durch«, wie man in der Familie ihre Verzweiflung zu benennen pflegte. Woran sie genau gestorben ist, weiß ich nicht. Die Erzählungen diverser Verwandter variieren und wurden im Laufe der Jahrzehnte auch immer nebulöser, es könnte ein Herzinfarkt oder Schlaganfall gewesen sein, vielleicht hat sie auch Selbstmord begangen.

Als eine meiner Tanten mir das erste Mal von meiner Urgroßmutter erzählte, muss ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein und begriff überhaupt nichts. Wie konnte es denn sein, dass »jemand« Männer dazu zwang, Soldaten zu werden? Warum hatten die nicht einfach »Nein« gesagt, sich geweigert und ihr normales Leben wie gewohnt weitergeführt? Und wer war überhaupt dieser »jemand« gewesen, der da so mir nichts, dir nichts einen Krieg angefangen hatte? Bloß weil der sich prügeln wollte, mussten die anderen doch nicht alle mitmachen!

Kurz darauf machten wir Urlaub irgendwo in Bayern. Es regnete beinah ununterbrochen, weshalb meine Eltern gezwungenermaßen ein Kulturprogramm zusammenstellten. Mein Bruder und ich wurden auf Schloss Neuschwanstein geschleppt, besichtigen Kirchen und andere recht merkwürdige Orte.

Nach den Ferien besuchte uns dann eine Frau, die sich als Großtante Sowieso vorstellte. Aus mir unerfindlichen Gründen heulte sie wie Schlosshund, schenkte uns Schokolade und bedankte sich immer wieder, da wir ihren Sohn besucht hätten. Hierbei konnte es sich allerdings nur um ein Missverständnis handeln, da ich aber die Schokolade behalten wollte, hielt ich vorsorglich mal meinen Mund. Mit der Zeit geriet diese Episode in Vergessenheit, erst nach ein paar Jahren erinnerte ich mich wieder daran: im Wald von Belleau.

Lange hatte ich den Eindruck, dass mein Vater (Jahrgang 31) und seine Schwester (Jahrgang 1926), jene Tante, die mir als Erste von meiner Urgroßmutter erzählt hatte, aus ihren Kriegserlebnissen völlig verschiedenen Konsequenzen gezogen hätten. Während mein Vater aus seiner Abneigung gegen Militär und Menschen in Uniform nie einen Hehl machte, äußerte sich meine Tante schon mal, so ein Offizier sei doch fesch. Doch dann war es sie, die 1991 gegen den Golfkrieg demonstrierte, öffentlich für Frieden betete und vehement forderte: »Kein Blut für Öl!«

»Vielleicht werde ich mal Berufssoldat«, verkündete einst mein damals pubertierender Sohn und wollte mich damit wohl provozieren.

»Erwachsene treffen ihre eigenen Entscheidungen, ganz klar. Du bist dann IN der Kaserne und ich lege jeden Tag VOR der Kaserne einen Striptease hin.« Die Geschichte meiner Urgroßmutter hat mein Leben geprägt, kampflos würde ich meinen Sohn keinem Militär der Welt überlassen.

Während er noch überlegte, ob er das nun ernst nehmen sollte, warnte ihn mein Vater/sein Opa: »Ich kenne die schon ein paar Jahre länger als du, glaube mir, die wird das wirklich machen!« Danach war das Thema vom Tisch.

Heute Morgen habe ich mich gefreut, als bei der Mädchenmannschaft der Blog einer »Seniorin« vorgestellt wurde. Ein paar Stunden später jedoch: »Triggerwarnung«, weil auf diesem Blog »in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag eine unkritische »Betrauerung« der Soldaten von Wehrmacht und Reichswehr betrieben wird.«

Vielleicht hätte meine Urgroßmutter noch ein paar Jahre länger gelebt, wenn sie einen Ort für die Trauer um ihren Sohn gehabt hätte. Großtante Sowieso, ihre Tränen und ihre Schokolade. Meine Angst, als mein Sohn zur Welt kam und ich mich sofort fragte, was wird, wenn er mal Soldat werden sollte? Warum war er bloß kein Mädchen? (Von Frauen bei der Bundeswehr war damals noch keine Rede). Der Wald von Belleau, wo ich zusammen mit französischen Freund_innen stand und was fürs Leben lernte.

Militaristen, die gerne die Kinder anderer Menschen als Kanonenfutter missbrauchen woll(t)en.

Trauernde Mütter brauch(t)en einen Platz, Raum … ebenso wie Nichten, die sich an einen lebenslustigen Onkel erinnern, der bei Kriegsausbruch zwanzig Jahre gewesen war und nicht mehr nach Hause kam. Ihnen gehört der Volkstrauertag!!!!

1945 war erst gestern!

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