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Schlaganfall? 1

Telefonanrufe sonntags morgens um halb sieben bedeuten in der Regel nichts Gutes. Neunundsiebzig war in der Nacht ins Krankenhaus gekommen, es besteht der Verdacht auf einen Schlaganfall. Verschlafen, panisch und ungläubig zugleich höre ich zu, was der Bruder erzählt. Um 22 Uhr am Abend zuvor war der Notarzt das erste Mal bei ihr gewesen und hatte sie als verwirrt, aber körperlich gesund bezeichnet. Als er um 3 Uhr erneut gerufen wurde, erfolgte die Krankenhauseinweisung. Nicht etwa, weil er die Situation inzwischen anders einschätzte, sondern weil ihm von Einundachtzig nachdrücklich erklärt wurde, irgendwas stimme nicht. Wahrscheinlich befürchtete er, sonst in dieser Nacht noch ein drittes Mal gerufen zu werden.

Im Kreiskrankenhaus äußerte man den Verdacht, Neunundsiebzig könne einen Schlaganfall erlitten haben und machte ein Tele-CT, das in der nächsten Uniklinik ausgewertet werden sollte. Eine freundliche Ärztin aus Osteuropa teilte Einundachtzig mit, seine Frau müsse stationär aufgenommen werden. Mehr verstand er nicht, denn sie sprach nur gebrochen deutsch und außerdem hatte er in der Aufregung sein Hörgerät vergessen. Also ging er nach Hause und wartete darauf, dass es Tag wurde und er die Familie informieren konnte.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte es bei uns zum ersten Mal in diesem Winter richtig geschneit. Wir konnten nicht einfach aus dem Haus rennen und losfahren, wie ich es gerne getan hätte. Katzenwäsche, anziehen, die Hunde versorgen und während die Liebste das Auto freischaufelt, räumt ein lieber Nachbar die Hofeinfahrt. Glücklicherweise war der Räumdienst bereits unterwegs gewesen und die Straßen waren frei. Trotzdem kommen wir erst gegen neun im Krankenhaus an.

Auf dem Weg zum Zimmer von Neunundsiebzig treffen wir auf eine Schwester. Ich stelle mich vor und will natürlich sofort wissen, was nun eigentlich los ist. Leider erhalte ich keine Auskunft, die Schwester darf mir nichts sagen und fragt stattdessen mich, ob die Patientin denn immer so schwierig sei. Oh ja, das ist sie. Schwierig, renitent, störrisch, besserwisserisch, an manchen Tagen kaum zu ertragen, wenigstens nicht von mir. Wenn wir länger als eine halbe Stunde gemeinsam in einem Raum sind, gibt es unweigerlich Krach.

Mein schlechtes Gewissen meldet sich, am Freitag hat sie bei mir angerufen und ich bin nicht ans Telefon gegangen. Ich wollte mich nicht schon wieder fragen lassen, wann ich denn endlich wegen des Christstollens vorbeikommen würde. Seit ungefähr vierzig Jahren backen sie und Einundachtzig Ende November Christstollen für die ganze Familie. Es werden immer mehr, denn wir vermehren uns wie die Karnickel, wie meine Oma einmal feststellte. Viel Arbeit für undankbare Menschen wie mich, die ihren Stollen erst nach der fünften Aufforderung abholen.

Während ich gedanklich mit dem Christstollen beschäftigt bin, redet die Schwester weiter. Sie erkundigt sich nach dem Pflegedienst, der Neunundsiebzig betreut, schlägt eine Kurzzeitpflege vor und will eine Sozialarbeiterin einschalten. Erst jetzt wird mir langsam klar, welches Missverständnis hier besteht. Man hält Neunundsiebzig und Einundachtzig für ein altes Ehepaar, das tüdelig wird und nicht mehr so richtig allein zurechtkommt. Das in der Nacht nicht aus medizinischen Gründen den Notarzt gerufen hat, sondern weil es ganz allgemein Hilfe braucht.

Trotzdem allem hätte ich beinah laut losgelacht, gleichzeitig jedoch stieg Ärger in mir hoch. Was denkt die eigentlich von mir und meinem Bruder? Dass wir unsere armen alten hilflosen Eltern einfach ihrem Schicksal überlassen? Seit sechs Jahren leben sie in einer behindertengerechten Wohnung mit breiten Türen, ohne Schwellen und einem Badezimmer, das mit einem Rollstuhl befahren werden könnte, wenn sie denn mal irgendwann einen brauchen sollten. Ein Notruf ist installiert, diverse technische Hilfsmittel vorhanden und jeden Morgen kommt eine Schwester der Sozialstation vorbei, die Neunundsiebzig beim Anziehen der Gummistrümpfe hilft. Eine Putzfrau, eine Physiotherapeutin, in diesem Haushalt geht zu wie in einem Taubenschlag, dort rennen an einem Tag mehr Menschen rum und klingelt öfter das Telefon, als bei mir in einem ganzen Monat. Was vermutlich auch der Grund ist, weshalb Einundachtzig immer noch (teil)berufstätig ist, mehrere Tage im Monat bei Kunden verbringt und stundenlang in seinem Arbeitszimmer vorm PC sitzt.

Doch ich habe jetzt weder die Zeit noch die Lust, diese Schwester, die es ja wirklich nur gut meint, über ihren Irrtum und die wahren Verhältnisse aufzuklären. Stattdessen bin ich erleichtert, auch wenn sie mir keine Auskunft geben darf, das was sie gesagt hat, lässt für mich nur den Schluss zu: Was immer in der Nacht passiert sein sollte, ernsthaft erkrankt kann Neunundsiebzig nicht sein …

… eine Minute später weiß ich es besser. Aus dem Bett, in dem sie liegen soll, sieht mich meine Oma an. Ihr Gesicht, ihre Körperhaltung, das ist nicht mehr nur die gewohnte Ähnlichkeit, vor mir habe ich einen Klon der Frau, die die Liebste und ich fünf Jahre bis ihrem Tod gepflegt haben. Die Augen sind starr nach links oben gedreht, der rechte Arm liegt merkwürdig gekrümmt auf der Bettdecke. Doch ihre Stimme klingt klar und deutlich wie immer, als sie uns anherrscht: »Rufen Sie sofort meine Tochter an! Die muss einen Krankenwagen besorgen, der mich nach Hause bringt! Ich bleibe hier keine Sekunde länger!«

Dann endlich hat sie uns erkannt und fängt an, wie ein Wasserfall zu reden. Da draußen zwischen grünen Sesseln stünde ihre Handtasche mit genügend Geld, um einen Krankentransport beim Roten Kreuz zu bestellen. Die Schwestern seien unfreundlich, der Tee schmecke widerlich und überhaupt trinke sie nur Wasser der Marke X, wieso kapiere das niemand? Wo ihr Telefon mit gespeicherten Nummern sei und warum wir ihre Salatschüssel immer noch nicht zurückgebracht hätten?

»Da draußen« im Krankenhausflur stehen weder grüne Sessel noch ihre Handtasche und mit ihrem Festnetztelefon von zuhause könnte sie hier auch wohl kaum etwas anfangen. Beinah in jedem Satz wechselt sie zwischen Realität und Illusion, zwischen Gegenwart und Vergangenheit ab und erzählt Dinge aus ihrem Leben, die ich eigentlich niemals  hätte erfahren wollen. Mittlerweile ist Einundachtzig eingetroffen, ein weiteres Missverständnis, er hatte in der Wohnung auf uns gewartet. Gleich darauf kommt der Bruder gemeinsam mit einem der Enkel_innen, das Krankenzimmer füllt sich.

Noch immer wissen wir nicht, was mit Neunundsiebzig los ist. War es Schlaganfall gewesen? Alle Anzeichen sprechen dafür, müsste da jetzt nicht sofort mit einer Behandlung begonnen werden? Wir machen uns auf die Suche nach den zuständigen Ärzt_innen, finden aber nur die bereits bekannte Schwester. Die Ärztin sei unterwegs und käme irgendwann. Wann? Demnächst. Was bedeutet das? In fünf Minuten, in einer Stunde? Achselzucken.

Einundachtzig ist übermüdet, er hat seit über 36 Stunden nicht geschlafen, sorgt sich um seine Frau und denkt wahrscheinlich auch an die horrenden Summen, die er monatlich für eine Versorgung als Privatpatient_in an die Versicherung zahlt. Er will jetzt eine Auskunft und wissen, woran er ist. Die Schwester bleibt ruhig und nett, doch ihr Tonfall verändert sich mehr und mehr in Richtung: »einem kleinen Kind die Welt erklären«.

Jetzt reißt mir der Geduldsfaden und falle ihr ins Wort: »Der Mann ist zwar 81 Jahre alt, aber keineswegs dement!« Erschrocken entschuldigt sie sich und das Schlimme an der Situation ist, ich weiß, dass sie keineswegs unhöflich sein wollte. Sie hat einfach nur so verhalten, wie das bei uns gegenüber alten Menschen üblich ist. Kurz danach erleben wir eine ähnliche Situation mit einem sehr jungen Arzt. Einundachtzig stellt Fragen, der junge Arzt beantwortet sie und sieht dabei mir ins Gesicht. Ich pöble ihn deswegen an, auch er entschuldigt sich.

Erst ca. zweieinhalb Stunden nach unserem Eintreffen im Krankenhaus erfahren wir endlich, dass man schlicht keine Ahnung hat, was Neunundsiebzig fehlen könnte. Das CT sei unauffällig gewesen und ihr wirres Gestammel hält man für eine Art alterstypische Demenz, die uns als medizinisch ungeschulte Familie bisher bloß nie aufgefallen sei. Die motorischen/neurologischen Ausfälle der rechten Körperhälfte existieren nur in unserer Einbildung, aber bitte, wenn wir darauf bestehen, werde man noch ein weiteres CT machen. Kernspin könne man ebenfalls in Betracht ziehen, aber erst am Montag, dabei handele es sich um keine Untersuchung fürs Wochenende.

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