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Unser Dorf soll schöner werden

Die Liebste und ich bezeichnen uns als Landlesben. Wir erzählen immer von unserem Dorf, und an dieser Bezeichnung halten wir fest, auch wenn wir natürlich wissen, dass der Ort schon seit über 900 Jahren die Stadtrechte hat.

Aber mal ehrlich, welche könnte denn schon guten Gewissens bei knapp 3000 EinwohnerInnen, nächtlichen Traktorenrennen und morgendlichen Hahnengeschrei von einer Stadt sprechen? Eine Stadt, die sage und schreibe, eine einzige Fußgängerampel hat? Na ja, neuerdings gibt es auch einen Kreisverkehr. Der war aber auch nötig, denn Verkehrsunfälle gibt es hier leider wie anderswo auch. Bloß nicht an der Stelle, wo jetzt der Kreisverkehr ist. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Vielleicht liegt es daran, dass wir doch mehr Dorf als Stadt sind: der Radius des Kreisverkehrs ist nämlich ein wenig zu knapp geraten. Und so warten wir alle gespannt auf den Tag, wenn der erste LKW nicht die Kurve kratzt, sondern in die Glasfassade des Sparkassenneubaus donnert. Nebenbei bemerkt, diese Glasfassade passt ins dörfliche Idyll wie die berühmte Faust aufs Auge.

Vor einigen Tagen habe ich im Internet nach einer Adresse gesucht. Und weil ich schon mal dabei war, habe ich spaßeshalber den Namen unseres Stadtdorfes eingegeben … er tauchte 3865 Mal auf. Ich hielt diese Zahl erst für einen Scherz von google.de. Doch eine Suchmaschine scherzt nicht, und beim Durchforsten der Treffer stellte ich dann fest, unser Dorf ist im Internet angekommen.

Eine Tatsache, die Die Liebste und ich bisher noch nicht wahrgenommen hatten. Der Kraut- und Rübenladen, der neben Schreibwaren, Zeitungen und Tabak auch Gummistiefel und Ofenrohre verkauft, präsentiert sich wegen der dreieinhalb Bücher im Angebot schamlos als gut sortierte Buchhandlung.
Die Friseurin ein Stockwerk tiefer ist ebenso vertreten wie der Optiker.
Und nicht zu vergessen: der Apotheker, dessen Diskretion über unser Dorf hinaus berühmt ist. Denn weiter weg ist sein Schrei: »Wo ist die Hämorridensalbe für Herrn Müller?« auch bestimmt nicht zu hören.

Außerdem wissen wir jetzt, dass es bei uns eine Geistheilerin und ein buddhistisches Zentrum gibt – geben soll, denn unter der angegeben Adresse fanden Die Liebste und der Hund nach einem langen Spaziergang nur einen Rübenacker mit Karnickel vor. Der Hund fand diese Form des Buddhismus klasse, die Liebste reagierte leicht säuerlich.

Auch der Bürgermeister hat inzwischen, ganz bürgernah, eine Mailadresse. Nur wie er die mails beantworten soll, muss er wohl noch lernen. Denn unsere Anfrage wegen des Luftschutzbunkers ist von ihm bisher nicht beantwortet worden.

Leicht verwirrt bis fassungslos stellten Die Liebste und ich fest, dass wir nicht nur die Ankunft unseres Dorfes im Internet verschlafen hatten, sondern auch die Dorfentwicklung selbst. Uns waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Altbundespräsident Herzog und Michael Schuhmacher hier gesichtet worden seien. Wir hatten es nicht geglaubt. Na ja, es hatte uns auch nicht besonders interessiert. Jetzt wissen wir, dass die Gerüchte stimmten. Und wenn ich das nächste Mal einen roten Ferrari über unsere Hauptstraße kriechen sehe, glaube ich nicht an eine Halluzination, sondern weiß, dass ein gewisser Herr im neuen vornehmen Schlosshotel mit den exorbitanten Preisen Quartier bezogen hat, weil er in Hockenheim mal wieder im Kreis herumfahren will.

Unter dem Motto »Unser Dorf soll schöner werden« wird hier viel getan. Am Dorfrand entsteht zur Zeit eine Seniorenwohnanlage. Sie soll laut Prospekten wunderschön werden und ist idyllisch gelegen: direkt gegenüber dem Friedhof. Senioren, die sich für Hunderttausende von Euros in diese Anlage eingekauft haben werden, bekommen den freien Blick von Balkon und Wohnzimmer auf ihre letzte endgültige Unterbringungsstelle gratis dazu. Ach ja, und sie bekommen die zweite Fußgängerampel des Ortes, wahrscheinlich damit sich die Sargträger beim Überqueren der Straße nicht allzu sehr beeilen müssen. Ansonsten wird die Fußgängerampel wohl kaum gebraucht werden. Denn der Weg in Dorfmitte, pardon: die Innenstadt, wird für die meisten Senioren nicht zu bewältigen sein. Aber warum soll es denn den betuchten Senioren besser als den Alten aus dem Pflegeheim gehen? Das existiert schon seit vielen Jahren, ist direkt stark befahrenen Straße und auf halber Höhe gelegen.

 

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