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Update: Billige Gefriertruhe für Oma gesucht

Gestern Abend wurde bei Günther Jauch über Altenpflege in Deutschland gesprochen. »Kostenfaktor Oma – wird Pflege unbezahlbar?« lautete der Titel der Sendung. Kam mir irgendwie bekannt vor, weshalb ich mir entgegen meiner sonstigen Gewohnheit – Jauch darf sonst eigentlich nicht auf unseren Bildschirm – heute früh die Wiederholung angesehen habe.

Die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt berichtete, was sich in den letzten Jahren gesetzlich bei der Pflege geändert habe und in Zukunft noch ändern werde: Von einem Kofferraum voller Formulare sei man inzwischen bei einer LKW Ladung gekommen und wollte zurück auf den Laderaum kleinen Busses oder so ungefähr wenigstens. Ein Herr Spahn von der CDU behauptete unverfroren, selbst wenn Oma sich das Pflegeheim nicht leisten könne, würden Angehörige nur in wenigen Ausnahmefällen finanziell herangezogen und diejenigen, die anderes behaupteten, hätten nur Angst um ihr Erbe. Ein Schweizer erzählte von seinem Altenheimprojekt in Thailand und ein Mann von den Gründen, weshalb seine Mutter in einem Heim in der Slowakei gepflegt wird. Bei einer Moderatorin wurde ständig eingeblendet: »Pflegte fünf Jahre ihre Großmutter«, richtiger wäre wohl gewesen: »Ließ die Großmutter bei sich wohnen und bezahlte die nötigen Pflegekräfte«. Der Leiter eines Altenheims versuchte … Ja, was? Spontan würde ich sagen, nicht auszuflippen, wenn das Gelabere von Schmidt und Spahn sowie Jauchs Fragen allzu realitätsfremd daherkamen.

Fazit: die Oma kostet nur dann was, wenn sie ihr Eigenheim nicht zu Geld machen will, der Opa kostet überhaupt nix. Der Beruf der Altenpfleger_innen müsste attraktiver werden, häusliche Pflege kann unter Umständen anstrengend sein. An Missständen in Pflegeheimen sind die Medien schuld, die darüber berichten. Der Mann, der seine Mutter in ein Pflegeheim in der Slowakei brachte, soll sich was schämen und der Schweizer, der Alte nach Thailand bringt, spinnt ein bisschen.

Nicht ein einziges Wort darüber, dass Pflege in der Regel Frauensache ist oder was denn all die Leute machen sollen, die kein Eigenheim zu Geld machen können oder die Frauen, deren Rente so niedrig sind/sein werden, dass sie davon noch nicht einmal das normale Leben finanzieren können, geschweige denn ein Pflegeheim oder gar ein private Pflegekraft. Bei Ulla Schmidt wird sowieso alles innerhalb der Familie geregelt und Frauen ohne Angehörige gibt’s eh nicht, wenigstens nicht in dieser Jauch Runde.

In der Pflege ist also alles noch wie 2003, weder in Theorie noch in der Praxis ist man seitdem weitergekommen. Es hat sich nichts geändert, abgesehen von einer Ausnahme: Die Formulare haben sich weiter vermehrt.

Billige Gefriertruhe für Oma gesucht (2003)

Erinnert Ihr Euch noch an Nobby Blüm? Den Kleinen mit der Nickelbrille, der einst tapfer den Sozialstaat gegen die große dicke Birne und andere verteidigte? Mittlerweile ist er im Ruhestand und einer der ganz wenigen Politiker, die offen zu ihren Einkünften stehen. Wer gute Arbeit leistet, hat Anspruch auf gute Bezahlung, sagte er in einem Interview und fügte hinzu, dies gelte für alle Berufe.

Blüms Lebensleistung nach seinen eigenen Angaben ist die Einführung der Pflegeversicherung. Jene Versicherung, die demnächst für viele Lesben, da kinderlos, teuerer werden wird, und die die meisten von uns in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren wahrscheinlich sowieso nicht in Anspruch nehmen werden können. Die Pflegeversicherung ist nämlich pleite und muss Konkurs anmelden, wenigstens wenn frau den vielen Presseberichten der letzten Zeit Glauben schenkt. Es gibt zu viele Alte, die Leistungen beanspruchen, heißt es.

Und warum gibt es so viele Alte?

Blöde Frage, meinte eine Frau, die ich zufällig beim Friseur traf. Seit Einführung der Pflegeversicherung werden sie einfach zu gut gepflegt!

Anstatt nach kurzem Rentenbezug zu sterben, wie sich das für einen älteren Menschen gehört und früher üblich war, leben sie munter weiter und weiter und weiter und lassen es sich auf Kosten der Allgemeinheit gut gehen. Sie konsultieren bei jedem Zipperlein den Arzt und stopfen kiloweise Medikamente für ein längeres Leben in sich hinein. Sie bestellen Essen auf Rädern und schicken Zivis zum Einkaufen, anstatt in Anstand zu verhungern, wenn sie keine Treppen mehr steigen und das Haus nicht mehr verlassen können.

Sind die Alten wenigstens noch etwas einsichtig, gehen sie in ein Altersheim. Das kostet die Pflegeversicherung zwar auch Geld, schafft aber zum Ausgleich auch Arbeitsplätze und somit Beitragszahler_innen

Uneinsichtige Alte hingegen quartieren sich bei Verwandten ein und ermöglichen diesen somit ein Luxusleben auf Kosten der Pflegeversicherung.

Die Frau beim Friseur wusste, wovon sie sprach. Sie pflegt ihre Mutter und kann sich nur deswegen täglich einen neuen Haarschnitt leisten. Auch die Liebste und ich sind zwei dieser Luxusgeschöpfe. Dafür, dass Oma bei uns leben darf, und wir ihr ab und zu mal eine Banane reichen oder eine Tasse Tee hinstellen, lassen wir uns fürstlich bezahlen.

Um dieser Mitnahmementalität wie unser aller Kanzler uns Fußvolk neulich vorwarf, wenigstens etwas den Riegel vorzuschieben, hat die Pflegeversicherung eine Verwaltung. So soll verhindert werden, dass der wackligen Oma und ihren gierigen Verwandten auch nur ein Handgriff zu viel erstattet wird.

Seit Omas Einzug vor fast fünf Jahren schlagen sich die Liebste und ich mit jener Versicherung herum. In unserem Fall handelt es sich um die AOK Mannheim, ich bin aber sicher, Krankenkasse und Ort sind beliebig austauschbar.

Spaßeshalber, ich liebe solche Rechnungen, habe ich neulich einmal überschlagen, wie viel Zeit wir seitdem mit Formulare ausfüllen, Telefonieren, Briefe schreiben und Ähnlichem verbracht haben. Als ich bei hundert Stunden angekommen war, habe ich aufgehört zu rechnen. So schrecklich hatte selbst ich mir das nicht vorgestellt.

Obwohl die Geschichte eigentlich ganz einfach ist: Es gibt für jeden Handgriff ein fünfundzwanzigseitiges Formular. Für dessen Erstellung, Druck, Bearbeitung, Postversand usw. kommt über den Daumen gepeilt auf eine Oma ein Verwaltungsarbeitsplatz. Und da es in der Natur einer Verwaltung liegt, immer mehr Formulare zu erschaffen, um ihre Existenz zu sichern, kostet der Wasserkopf der Pflegeversicherung von Tag zu Tag mehr. Je mehr er allerdings kostet, desto weniger Geld ist für die Omas da, was ebenfalls in der Natur der Sache liegt.

Unsere Oma ist mittlerweile vollkommen gaga ich kann das hier schreiben, ohne zu befürchten, von ihr verdroschen zu werden, denn sie kann es ja nicht mehr lesen. Sie muss aus dem Bett geholt und ins Bett gebracht, gewaschen, gefüttert, auf die Toilette gebracht bzw. gewickelt werden. Wir müssen für sie alles einkaufen, von den Medikamenten bis zum Essen, für sie kochen, waschen und putzen, Termine für die Fußpflege und den Friseur ausmachen und sie zum Arzt und Optiker bringen. Wir müssen sie nachts trösten, wenn sie Angst hat. Tagsüber machen wir mit ihr Gymnastik, damit ihre Beweglichkeit nicht noch schneller verloren geht. Wir lesen ihr aus der Zeitung vor und beantworten hundert Mal am Tag Fragen wie: Wo bin ich hier eigentlich? und Wer bist du denn?

Kurzum, das ist beinah ein 24 Stunden Job, denn selten schläft sie länger als zwei Stunden am Stück. Das können wir nur schaffen, weil wir zu Zweit sind und die Unterstützung des ambulanten Pflegedienstes, eines Zivis und einiger Freundinnen haben. Und ganz nebenbei: nach Abzug aller Betreuungskosten und dem wirklich sauer verdienten Honorar des ambulanten Pflegedienstes bleiben uns von der Pflegeversicherung ganze Nullkommanull Cent.

Der Verwaltungsverwasserkopf ist allerdings der Meinung, daran seien wir selbst schuld. Denn Omas Pflege und Betreuung benötige nicht mehr als zwei Stunden am Tag. Inklusive der Zeit, die wir zum Formularausfüllen brauchen. Punktum! Aber um seiner Existenz gerecht zu werden, schickte er uns neue Formulare ins Haus.

Als vernünftige Frau bin ich immer um Lösungen bemüht und habe deshalb vorgeschlagen, dass wir eine Gefriertruhe anschaffen und Oma die restliche Zeit des Tages einfrieren.

Anstatt einer Antwort schickte die Pflegeversicherung eine beleidigte Mail und setzte eine letztmalige Frist während der Bundestag beschloss, die Liebste muss ab Januar mehr in die Pflegeversicherung einzahlen. Sie hat sich zwar einst jahrelang um ihre kranke Mutter und ihren kleinen Bruder ebenso gekümmert wie jetzt um Oma, aber eine Lebendgeburt kann sie nun mal nicht vorweisen.

Ob Nobby Blüm wohl weiß, was aus seiner Lebensleistung geworden ist?

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