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Was mal über gewisse Zustände in Altenheimen gesagt werden muss

»Was gesagt werden muss«, heißt die Überschrift über dem Gedicht, das ein alter Mann verfasst hat und über das sich halb Deutschland zu streiten scheint. »Was gesagt werden muss«, könnten auch Deutschlands Altenpfleger_innen lauthals in die Welt hinausbrüllen, wenn sie denn Zeit, Nerven und Lust hätten, ebenfalls in holpriger Gedichtform über gewisse Zustände zu schreiben. Doch interessieren würde das eh niemand, außer vielleicht so ein paar Marginalenblogger_innen wie mich, also versuchen sie es erst gar nicht.

Würde es sich bei dem alten Mann mit dem Gedicht nicht um einen Literaturnobelpreisträger, sondern um den ehemaligen Autoschlosser Müller mit gleichem Geburtsjahr und ähnlichem Lebenslauf bis Kriegsende handeln, hätte er seine Meinung nur dem Personal des Altenheims oder der Sozialstation um die Ohren hauen dürfen. Niemand wäre dann darüber erschrocken, verwundert, empört gewesen oder hätte Beifall geklatscht.

Warum auch? Im Alter lässt das Kurzzeitgedächtnis nach und das Langzeitgedächtnis erhält mehr und mehr Raum. Das Versinken in Kindheits- und Jugenderinnerungen gehört zur Normalität und je älter ein Mensch wird, desto wirrer vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit, desto größer ist die Möglichkeit des Realitätsverlusts. Das ist kein schlagartiger Vorgang, meist passiert es ganz langsam und allmählich und fällt der Umgebung häufig erst auf, wenn Opa nach seiner Kindergartentante ruft oder Oma schulfrei verlangt, weil der Kaiser Geburtstag hat.

Bei der Entnazifizierung nach Kriegsende durch die drei Westmächte fielen die Jahrgänge ab 1919 unter eine Art generelle Jugendamnestie. Sie wurden nur zur Verantwortung gezogen, wenn man ihnen persönlich Verbrechen nachweisen konnte. Der alte Mann mit dem Gedicht gehört zu diesen Jahrgängen wie auch meine Eltern und die Eltern gleichaltriger Freund_innen.

Es sind Menschen, die jetzt mehr und mehr in Altenheimen leben oder sonst auf irgendeine Art pflegerisch betreut werden. Sie sind mit Sicherheit teilweise geistig noch sehr fit, auch wenn sie mit ihren Erinnerungen gelegentlich die Nachkommenschaft nerven. Keine_r von ihnen will Kaisers Geburtstag feiern, wie das noch vor zehn Jahren üblich gewesen war. Nein, heute begrüßen so manche das Pflegepersonal am Morgen mit einem strammen »Heil Hitler« und wollen die türkische »Fremdarbeiterin« mal bei der Gestapo melden, mal in ihrem Keller verstecken. Erst nach dem Frühstück und einige Zeit nach der Tabletteneinnahme kann man sich mit einigen ganz normal unterhalten und sogar vernünftig über den Leitartikel in der Tageszeitung sprechen. Bei anderen muss man sich allerdings weiter die Ohren zuhalten, weil sie nun fit genug sind, sämtliche Strophen des Horst-Wessel-Lieds zu grölen.

Aber davon will man in unserer Gesellschaft nichts wissen, all die Hitlerjungen und BDM-Mädels in unseren Altenheimen sind ebenso ein Tabuthema wie die Vergewaltigungen, die viele der alten Frauen Tag für Tag bei der Körperpflege neu durchleben. Bei uns fetzt man sich lieber über ein sogenanntes Gedicht, das ein alter Mann verfasst hat, und lässt die Altenpfleger_innen mit dieser bizarren Rückkehr in die Vergangenheit alleine. Denn Altenpflege ist Sozialarbeit, also eine Aufgabe der Frauen. Über Gedichte von Literaturnobelpreisträgern in den Medien zu diskutieren, ist hingegen Männersache[i].


[i] Jacob Augstein, Jan Fleischhauer, Sebastian Hammelehle, Christoph Sydow, Hermann Gröhe, Ralph Giordano, Guido Westerwelle, Rolf Mützenich, Klaus Staeck, Thomas Hinrichs, Hendryk Broder, Denis Scheck und … wahrscheinlich könnte ich hier unzählige weitere Journalisten, Schriftsteller und Politiker aufzählen, während ich nur ein einziges Statement von einer Frau, der Politikerin Kerstin Müller, gefunden habe.

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