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Schlaganfall? Schlaganfall! 2

Das Gespräch mit der zuständigen Ärztin war ganz gut gelaufen, wenigstens dachte ich das. Sie hatte Einundachtzigs Fragen ausführlich beantwortet und schien wirklich begriffen zu haben, dass Neunundsiebzigs momentane Verwirrung und der starre Blick nicht ihr Normalzustand sind. Doch keine fünf Minuten später wird klar, dass sie uns entweder nicht zugehört oder nichts verstanden hatte.

»Wer richtet denn die Medikamente von Frau Neunundsiebzig?«, fragt sie. – »Was meinen Sie?« – »Macht das Herr Einundachtzig oder eine Schwester von der Sozialstation?« – »Sie kümmert sich selbst um ihre Medikamente.« – »Wirklich?« Der ungläubige Blick spricht Bände. Wie verantwortungslos, dieser dementen Frau die Medikamenteneinnahme selbst zu überlassen.

Trotz seines Alters hat Einundachtzig immer noch nicht gelernt, dass man Ärzt_innen in kritischen Situationen nichts erzählen darf, das sie eventuell auf eine falsche Spur führen könnte. In seinem Bemühen, den Ablauf der letzten Tage so genau wie nur möglich zu schildern, erwähnt er auch, dass sie über Magenschmerzen und Durchfall geklagt hatte. »Möglicherweise ist sie dehydriert«, schließt die Ärztin daraus messerscharf.

Viele alte Menschen trinken nicht genug und sind infolge des Flüssigkeitsmangels verwirrt. Ein bekanntes Problem, weshalb in Altenpflegeheimen auch »Trinkprotokolle« geführt werden müssen. Doch Neunundsiebzig achtet schon seit Jahren genau darauf, genügend zu trinken und ich kann es nicht fassen, dass noch immer an einem Schlaganfall gezweifelt wird. Vielleicht ist ja die Sache mit dem Tele CT bisher nicht so ganz ausgereift? Wahrscheinlicher jedoch lassen sich all diese Vorgänge mit Ageismische Kackscheiße am besten zusammenfassen.

Am nächsten Morgen ist Einundachtzig ab 10 Uhr im Krankenhaus. Er vereinbart einen Termin mit dem Chefarzt für den Nachmittag, hält bei seiner Frau Händchen und erlebt dann hautnah die Aktion »Bett versus Türrahmen« mit. Bei Neunundsiebzig soll endlich die angekündigte Kernspintomografie gemacht werden. Man transportiert sie in ihrem Bett in die entsprechende Abteilung außerhalb des eigentlichen Gebäudes. Anmelden, warten, Gespräch mit dem Arzt und schließlich die erstaunte Feststellung: Das Bett ist zu breit für den Türrahmen des Raumes, wo das Gerät steht.

Wieder zurück auf Station, umbetten auf eine Transportliege, erneut in die entsprechende Abteilung. Anmelden, warten, der Arzt kommt und nun wird Neunundsiebzig äußerst lebendig. Sie weigert sich, diese Untersuchung machen zu lassen. Seit einer Operation hat sie Metallteile im Körper und war damals gewarnt worden, sie dürfe nie eine Kernspintomografie bei sich machen lassen. Da sie recht hat, andererseits sich dieser ganze Aufwand irgendwie lohnen muss, wird stattdessen ein 3. CT gemacht.

Diagnose: Schlaganfall. Was für eine Überraschung!

Sie wiesen vorher auf die rasche Erstversorgung bereits hin, wieso ist diese so wichtig?

Liepert: »Time is brain« ist hier ein feststehender Begriff. Innerhalb der ersten 4,5 Stunden nach Beginn der Symptome kann man eine Lyse-Behandlung, die das Blutgerinnsel auflösen soll und in Form einer einstündigen Infusion durchgeführt wird, anwenden. Je eher man mit dieser Behandlung beginnt, desto größer sind die Chancen, Gehirngewebe zu retten.

Viereinhalb Stunden entsprechen ungefähr der Zeitspanne, die zwischen dem ersten und zweiten Auftauchen des Notarztes verstrich. Viereinhalb Stunden dauerte auch die Aktion »Bett versus Türrahmen«, weshalb Einundachtzig den Termin beim Chefarzt versäumte. Viereinhalb Stunden dürfte auch der Zeitaufwand sein, den jede_r Einzelne der Kinder und Schwiegerkinder, Enkel_innen und Schwiegerenkel_innen von Neunundsiebzig und Einundachtzig aufbrachte, um die »medizinischen Kontakte« in der Verwandtschaft und Bekanntschaft um Rat zu fragen und sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen.

Von der Ostsee bis zum Bodensee, von der Altenpflegerin bis zur HNO-Ärztin, netzwerken ganz ohne Internet und facebook. Wie früher, einfach nur mit Telefon. Und wir fragen uns, was wäre wohl, wenn …

… wenn es sich bei Neunundsiebzig um eine alleinstehende Frau ohne Familie, ohne Partner_in, ohne Kinder und Enkel_innen und Kassenpatientin handeln würde?

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