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Ich sehe nicht, was du siehst

Die Liebste ist mehr als erstaunt über die Mahnung der Firma »Wir liefern nur Schrott, aber zahlen müssen Sie trotzdem!« Im höflichen Ton wird daran erinnert, dass der Betrag von soundsoviel Euro immer noch offen stehe und man sich nun erlaube, eine Mahngebühr von 4 Euro zu erheben.

Mich wundert die Mahnung nicht, ich weiß, warum die Rechnung noch nicht bezahlt ist. Es liegt ausnahmsweise mal nicht daran, dass wir pleite sind, und der Bankrechner allein beim Aufruf unseres Kontos epileptische Anfälle bekam.


Nein, es liegt schlicht und einfach daran, dass ich alt bin. Es könnte im Zeitalter des Onlinebankings alles so einfach sein: Banking aufrufen, Überweisung ausfüllen, Tannummer dazu und fertig.

Und zunächst ist es auch einfach: Banking aufrufen, Kontonummer und Pin eingeben, Überweisung anklicken … tja und dann?

Und dann lese ich: »Empfänger«. Auch das ist noch einfach. Groß und fett gedruckt steht es ja auf der Rechnung. »Wir liefern nur Schrott …«, gebe ich ein. Kontonummer des Empfängers?

Die ist leider nicht mehr dick und fett gedruckt. Also Brille runter, Rechnung vor die Nase, Kontonummer ablesen, Brille wieder aufsetzen, Kontonummer eingeben …

War das jetzt 49912345 oder war das 99412345? Brille wieder runter, Rechnung wieder vor die Nase … eine Ziffer ablesen, Brille wieder aufsetzen, eine Ziffer eingeben …

Allein für die Kontonummer brauche ich fünf Minuten. Und damit ist es ja nicht getan, die Bankleitzahl, der Betrag, die Kundennummer, die Rechnungsnummer und zu guter Letzt die Transaktionsnummer wollen mühsam zusammengesucht werden.

Trotzdem verspreche ich der Liebsten, den ausstehenden Betrag sofort zu überweisen, umgehend, bevor ich etwas anderes tue und die Mahngebühren Junge bekommen. »Und warum gehst du jetzt ins Bad?« ruft sie hinter mir her. »Der PC steht immer noch im Büro!«

Der PC mag ja im Büro stehen, aber die Schachtel für die Kontaktlinsen steht im Bad. Und bevor ich an den PC gehe, muss ich erst einmal die Kontaktlinsen gegen die Brille austauschen. Denn Kontaktlinsen raus, eine Ziffer ablesen, Kontaktlinsen rein, eine Ziffer eintragen ist nun bei aller Liebe zu viel, Versprechen und Mahngebühren hin oder her.

»Wie wäre es denn mit Gleitsichtgläsern?« fragte eine, die die Worte Brille und Schlechtsehen nur vom Hörensagen kennt, und kommt sich besonders schlau vor. Was hat sie vor? Soll ich mir das Genick brechen? Sie schmeißt der Liebsten sowieso schon immer so neckische Blicke zu!

Oben nah sehen und unten fern oder auch umgekehrt, nicht einmal das kann ich mir merken und bekomme mit den sündhaft teuren Gläsern den starren Blick. Starr gerade aus, das ist gerade noch möglich. Ein wenig den Kopf gesenkt und ich werde seekrank. Die Treppenstufen verwandeln sich in eine schlitternde Hängebrücke und die Zeitungsbuchstaben in chinesische Schriftzeichen.

»Dann eben zwei Brillen!«, meint die besonders Schlaue und tritt noch nach. »Meine Oma hat auch eine Extralesebrille und macht damit sogar Handarbeiten!«

Unvermittelt entsteht vor meinem geistigen Auge, mit dem ich noch bestens sehe, der Plot für einen neuen Krimi. In der Rolle des grausam ermordeten Opfers die besonders Schlaue. Die Liebste protestiert heftig genug für zwei. Sie kennt mich lange genug. »Gib dieser Frau zwei Brillen zum ständigen Wechsel, und ich bin reif für die Klapsmühle!«

Bereits jetzt bin ich stets auf der Suche. Mehrere Stunden am Tag verbringe ich damit, Schlüssel, Geldbeutel, Ringe und Handy zu suchen, um nur mal die wichtigsten Dinge aufzuzählen. Zwei Brillen würden nur meine Suche und die Pein der Liebsten vergrößern. Denn alles, was ich nicht auf Anhieb finde, hat sie weggeräumt … ist doch logisch, oder?

Gemeinsam leiden wir weiter und zahlen Mahngebühren und essen merkwürdige Dinge, weil ich im Supermarkt bei der schlechten Beleuchtung das Kleingedruckte auf manchen Packungen nicht entziffern kann. »Dann geh doch mit der Brille einkaufen!«, stöhnt die Liebste und stochert angewidert in ihrem Gemüse, das in einer rosagelben Soße schwimmt, herum.

Was denkt sie sich denn? Sie weiß doch, dass ich mich mit Brille nicht mehr in der Öffentlichkeit zeige. Wer schön sein will, muss eben leiden, das wussten schon unsere Urgroßmütter. Und wenn Leiden eine rosagelbe Soße bedeutet, kann ich es auch nicht ändern. So schlecht schmeckt sie nun auch wieder nicht.

Doch dann kommt die Rettung! Ausgerechnet beim Einkaufen! Ausgerechnet von Tchibo.
Im Tchiboregal liegen neben Kaffeesorten, Socken und Handtüchern auch Lupen. Wunderschönes Design, sogar mit Beleuchtung! Ich kaufe gleich zwei, für den Fall, dass die Liebste die eine aufräumt.

Jetzt kann ich wieder alles entziffern, egal ob Kontonummern oder Kleingedrucktes … so viel Glückseligkeit ist selten. Zwar wollen meine Kinder nicht mehr mit mir einkaufen gehen, aber etwas bleibt doch immer auf der Strecke, oder?

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