Für Weihnachten im Schuhkarton brauchten wir einen Schuhkarton. Logisch, mag die eine oder andere denken, was denn sonst? Das ging uns auch durch den Kopf, so ungefähr eine halbe Stunde vor dem allerletzten Ablieferungstermin. Wir hatten wirklich an alles gedacht: Süßigkeiten, Hygieneartikel, Mütze, Schal, Handschuhe, ein Kuscheltier, Geschenkpapier. Nur den Schuhkarton, den hatten wir vergessen.
Und jetzt? Vor meinem geistigen Auge sah ich einen Schuhkarton, einen Einzigen. Er stand im Kleiderschrank meiner Großeltern und war gefüllt mit Pfennigstücken. Damit sollten dereinst meine Brautschuhe bezahlt werden, also dann, wenn ich erwachsen war und den richtigen Mann gefunden hatte. Bis es soweit war, würden noch viele Jahre ins Land gehen, genügend Zeit also, um weitere Schuhkartons mit Pfennigstücken zu füllen. Schließlich wusste niemand, wie teuer Brautschuhe in ungefähr zwanzig Jahren sein würden und ob ich vielleicht noch irgendwann eine Schwester bekäme. Bei den vielen Zuckerstückchen, die ich jeden Tag für den Storch auf die Fensterbank legte, war diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen.
Nun ja, irgendwann erbarmte sich der Storch meiner und brachte mir tatsächlich ein Geschwisterchen vorbei. Allerdings hatte er was gründlich missverstanden, denn statt der bestellten Schwester wurde ein Bruder geliefert. Gleichzeitig war nicht mehr zu übersehen, zu welchem Flop sich die Ehe meiner Tante entwickelte. Deren Brautschuhe waren auch mit Pfennigstücken bezahlt worden, hatten ihr aber gar kein Glück gebracht. Deshalb hörte meine Oma auf, weiter Pfennige in Schuhkartons zu sammeln.
Auf diese Schuhkartons konnten wir also nicht zugreifen, weshalb die Liebste mich dazu zwang, meinen geheiligten Kassetten ein anderes Zuhause zu suchen – Für die jüngeren Leser_innen: Das ist eine Kassette und das ein Walkman. Früher stecken wir die Kassette in den Walkman und hörten damit die Musik, die auf der Kassette gespeichert war –. Verzweifelte Probleme erfordern eben verzweifelte Maßnahmen und während ich mit den Tränen kämpfend meine Kassetten in einer Schreibtischschublade in Sicherheit brachte, beklebte die Liebste den Schuhkarton mit Weihnachtsgeschenkpapier.
Gestern hatte ich dann endlich einen neuen Karton für die Kassetten gefunden, doch statt sie einzuräumen und wieder auf den Speicher zu tragen, fing ich an, in die eine und andere erst noch einmal hineinzuhören. Hängen blieb ich schließlich bei Carolina Brauckmanns »Satirischen Lesbengesängen 1+2«, die Kassetten müssen zwanzig, wenn nicht sogar 25 Jahre alt sein. Die dazu gehörigen Schallplatten stehen im Wohnzimmer in unserer Sammlung, doch um sie abzuspielen, braucht es nicht nur einen Schallplattenspieler, den wir tatsächlich noch besitzen, sondern außerdem eine neue Schallplattenspielernadel, damit die Platten nicht zerkratzt werden. Nicht noch mehr beschädigt werden, als sie es bereits schon sind.
Jüngere Lesben können sich heute wahrscheinlich kaum vorstellen, wie das damals gewesen war, so vor ungefähr zwanzig, fünfundzwanzig Jahren. Als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte bzw. für die meisten Menschen ein Fremdwort war, mit dem sie nichts anfangen konnten. Es keine sozialen Netzwerke gab und Lesben außerhalb der ganzen großen Städte sich oft wie Aliens fühlten. Musik für sie? Bücher für sie? Wie und woher sollten sie davon erfahren? Wissen wurde über Mundpropaganda von Lesbe zu Lesbe verbreitet und jeder Ausflug nach Berlin oder Köln entwickelte zu einer psychischen Abenteuerreise, beinah schon zu einem Kulturschock.
Es waren Texte wie die der Satirischen Lesbengesänge, die in jener Zeit gerade uns Lesben in der Provinz beim Überleben halfen. Sie vermittelten die Erkenntnis, wir sind nicht alleine, irgendwo da draußen leben noch andere Lesben, denen es ähnlich geht, die mit Verwandten, Bekannten, Kolleg_innen und Freund_innen die gleichen Probleme haben, deren Sehnsucht nach der einen großen Liebe die Eigene sein könnte, die in Beziehungen mit denselben Schwierigkeiten kämpfen. Und alle zusammen konnten wir beim Lied »Sieben schöne alte Lesben« von einer tollen Zukunft träumen. »Weißte damals noch, vor ca. vierzig Jahren, als die Lesben alle um die dreißig waren? …«
Weißte, damals noch? Ja, ich weiß noch und deshalb werde ich jetzt mal sehen, wie ich die Kassetten in den mp3 Player hineinbekomme. Vielleicht erhitzen, verflüssigen und dann mit einem Trichter in eines dieser winzigen Löcher gießen? Ob das wohl klappt?