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Slutwalk. Frankfurt. Persönliches. Minirock. Stadtschuhe

Zufällig ist es genau vierzig Jahre her. Zum ersten und zum letzten Mal verbrachten meine Eltern, mein Bruder und ich gemeinsam die Ferien in südlicheren Gefilden. Bis dahin war es im Winter immer zum Skifahren und im Sommer an die Nordsee gegangen. Jahrelang hatte ich gequengelt, weil ich auch mal dahin wollte, wo alle anderen in den Sommerferien hinfuhren. Es wurde ein Fiasko. Mein Vater vertrug die Hitze nicht, meine Mutter vertrug Hitze nicht, mein Bruder vertrug die Hitze nicht, nach einer Woche wurde der Urlaub abgebrochen. Zum Trost erfüllte man mir vor der Abreise noch einen Wunsch: einen Minirock aus Leder, den ich auf einem Markt entdeckt hatte.

Unter normalen Umständen wäre das nie infrage gekommen. Mein Vater fand den Rock einen halben Meter zu kurz und meine Mutter Lederbekleidung für eine Jugendliche unangebracht. Darüber hinaus waren sie sich einig, dass für so wenig Material der Preis einfach nur unverschämt war. Mich interessierte das wenig. Ich hörte endlich auf zu maulen und erkor das Teil zu meinem Lieblingskleidungsstück.

Ein paar Tage später war ich gerade auf dem Nachhauseweg, als neben mir ein Mercedes anhielt und der Fahrer das Fenster herunterkurbelte. Arglos blieb ich stehen, schließlich lebte ich in einer Kleinstadt, wo »nie« etwas Böses passierte. Der Mann war sicher auf der Suche nach etwas, einer Straße oder einem Geschäft, vielleicht hatte er sich verfahren.

An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern. Schon deshalb nicht, weil er ein paar Begriffe benutzte, die ich damals noch gar nicht kannte. Trotzdem war selbst mir sofort klar, was er wollte. Ich zeigte ihm den Vogel und ging schnell weiter. Er beugte sich aus dem Fenster und schrie mir hinterher: »Spinnst du? Was ziehst du dich denn so nuttig an, wenn du nicht ficken willst?«

Mein erster – heiß ersehnter – Minirock und dann noch aus Leder. Er verschwand tief im Kleiderschrank, zur Verwunderung meiner Eltern habe ich ihn nie mehr angezogen. Ich habe mir überhaupt nie mehr einen Minirock gekauft. An diesem Abend habe ich etwas fürs Leben gelernt, nicht in der Schule, sondern überfallartig auf der Straße, in einem gutbürgerlichen Wohngebiet.

So sympathisch mir die Idee des Slutwalks war, habe ich doch lange darüber nachgedacht, ob ich daran teilnehmen soll. War ich nicht eigentlich viel zu alt dafür? Zwischen all den jungen Frauen würde ich mir sicher sehr komisch vorkommen. Dann erinnerte ich mich wieder an Erlebnis meiner Oma. Sie war bereits Mitte Achtzig gewesen, als sie einen Bekannten zum Essen einlud. Zu ihrer Verblüffung zog er nach dem Nachtisch seine Hose aus und erwartete den Nach-Nachtisch. Und mir fielen die Erzählungen einer Altenpflegerin ein: Sexuelle Belästigung ist in Altenheimen ein Problem. Aber es wird nur äußerst selten zum Thema gemacht. Wenn alte Männer übergriffig werden, reagiert die Umgebung meist nur mit einem amüsierten Lächeln und die alten Frauen machen gute Miene zum bösen Spiel, ganz so, wie sie es ihr Leben lang gewöhnt sind.

Verkehrstechnisch gesehen ist Frankfurt »unsere« Großstadt, wenn es denn mal sein muss. Erst durch den Wald bis Amorbach, dann auf die Ausbaustrecke und Autobahn. An guten Tagen brauchen wir nicht einmal eine Stunde. Allerdings habe ich ein gestörtes Verhältnis zu dieser Stadt. Es fing mit einer bösartigen Kindergartentante an und wurde im Laufe meines Lebens einfach nicht besser. Vielleicht komme ich deshalb zu Frankfurter Terminen immer zu spät. Beim Slutwalk waren es jedenfalls ganze vierzig Minuten. Beinah wären noch weitere fünf Minuten dazugekommen, denn Liebste musste mal. Allerdings:

Zu unserem Erstaunen mussten wir nicht die Verfolgung aufnehmen, um uns in den Marsch einzureihen. Man stand noch gemütlich am Treffpunkt, so verschwand die Liebste erst einmal in einem Café. Ich wartete vor der Tür, betrachtete interessiert das Getümmel und nahm die beiden Herren direkt neben mir erst mit einiger Verzögerung zur Kenntnis. Lebendig gewordene Klischees, Zuhälter mit »Kampfhund«. Ein paar Wortfetzen, die ich von ihrer Unterhaltung verstand, bestätigten meinen Verdacht. Ich fühlte mich äußerst unwohl und war heilfroh, als die Liebste wieder auftauchte.

Die Frage, ob wir uns ebenfalls sexy ver-kleiden sollten, haben wir uns erst gar nicht gestellt. Wir wären uns wirklich lächerlich vorgekommen. Auch der Vorschlag einer Freundin, dann wenigstens Strapse und Rüschen-Bh über Jeans und T-Shirt anzuziehen, war nicht nach unserem Geschmack. So blieben mein einziges Zugeständnis in dieser Richtung meine »Stadtschuhe«. Jetzt im Nachhinein muss ich sagen, das war eine der dümmsten Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe.

Von den Reden haben wir leider nicht viel verstanden, manchmal schepperte es einfach nur aus der Lautsprecheranlage. Aber die Stellungnahme von Hydra hatten wir sowieso schon vorher gelesen und beim Thema Abtreibung wollte ich gar nicht so genau verstehen. Ab einem gewissen Punkt bin ich da nämlich meist anderer Meinung. Irritiert hat mich die Anrede »Genossinnen und Genossen«, das hatte ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Um uns herum sprangen professionelle Fotografen, leicht zu erkennen an ihrer Ausrüstung. Erst spät entdeckte ich die Mitarbeiterin einer Bildagentur, die mir bestätigte, dass außer ihr wahrscheinlich nur männliche Fotografen im Einsatz wären. Man(n) hätte sich um diesen Job regelrecht geprügelt. Am meisten hat mich die Strecke durch das Rotlichtmilieu beeindruckt, falls das der richtige Ausdruck dafür ist. Ein Viertel, durch das ich normalerweise nie gehen würde. Zuhälter und/oder Freier am Straßenrand und oben an den Fenstern die Prostituierten.

Kurz vor halb sechs haben uns dann abgesetzt und auf den Heimweg gemacht, denn zuhause warteten unsere Hunde auf ihr Futter. Falls uns jemand gesehen haben sollte, ich war diejenige, die auf Strümpfen Richtung Bahnhof zum Parkhaus wankte und dabei alle zwei Minuten »Aua, meine Füße!« jaulte. Glücklicherweise stützte mich die Liebste und trug darüber hinaus noch meine Schuhe.

Auf der Heimfahrt dachte ich zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder an meinen Mini-Lederrock und überlegte, was in meinem Leben vielleicht anders gelaufen wäre, wenn es damals schon einen Slutwalk gegeben hätte.

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