Ein paar Tage lang ist es mir gelungen, mich aus der Aktion #waagnis herauszuhalten. Ich wollte davon nichts hören, sehen oder lesen, weil mir dieses Thema nicht gut tut. Außerdem glaube ich, hierzu gibt es wohl kaum noch etwas, das ich nicht bereits weiß, über das ich nicht schon selbst nachgedacht, diskutiert oder geschrieben hätte. Menschen, die mich kennen oder vielleicht mal in den Innereien der Karnele gewühlt haben, wissen das.
„In Erinnerung an die Monate in der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, an eine ganz besondere Therapeutin und Maike, Judith, Cornelia, Irene und viele andere (1995/96)“
Mit dieser Widmung beginnt „Koalas fressen Eukalyptus“ und deshalb ist es wirklich nicht verwunderlich, dass mir heute früh eine Leserin eine ziemlich aggressive Mail schrieb. Warum ich bisher noch nichts zu #waagnis gesagt hätte, schließlich fülle doch allein der Kampf um eine Waage ein ganzes Kapitel[1]. Ob ich auf dem Blog noch etwas dazu schreiben würde und was ich denn von Antje Schrupps Aussage „Für sowas hatten wir gar keine Zeit, wir machten Politik und Revolution!“ halten würde?
Zunächst mal gar nichts, schließlich musste ich erst die verschiedenen Blogposts zu #waagnis lesen, um mir eine eigene Meinung bilden zu können. „Ich finde mich auch zu dick, aber das ist mir egal“, habe ich mir für den Schluss aufgehoben, die vielen Kommentare allerdings erspart, sonst wäre ich wahrscheinlich heute Abend noch damit beschäftigt.
Wir haben uns in meiner Erinnerung überhaupt sowieso nicht um unser Essen gesorgt, wir haben einfach gegessen, was es gab. Außer denen, die morgens Körner fürs Müsli einweichten. Schon damals fühlte ich mich, wie es eben so Frauenschicksal ist, zu dick (obwohl ich viel dünner war als heute), aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, mich deshalb genauer mit meinem Essen zu beschäftigen. Für sowas hatten wir gar keine Zeit, wir machten Politik und Revolution!
Schluck
Nun, ich habe auch Politik und Revolution (Möchtegern) gemacht. Und viele meiner Freundinnen ebenfalls, nein eigentlich alle, außerhalb von politischen/feministischen Zusammenhängen kannte ich eigentlich keine anderen Frauen,. Trotzdem konnte ich schon seit ungefähr meinem 13. Lebensjahr von beinah jedem Lebensmittel sagen, wie viele Kalorien es hat und in welcher Kombination es am besten gegessen wird, damit das Kotzen leichter geht, es flutscht sozusagen.
Oh, wir wussten alle ganz genau, wie idiotisch das war und wie es sehr es unserem feministischen Bewusstsein widersprach. Susie Orbach gehörte wie so einige andere Autorinnen zur Pflichtlektüre. „Der Zwang, schlank und schön aussehen zu müssen, ist eine Erfindung des Patriarchats. Wir sollen uns damit beschäftigen, anstatt Politik zu machen“. Diesen Satz kannten wir alle, wiederholten ihn gebetsmühlenartig in der Öffentlichkeit und bemühten uns heimlich, beides unter einen Hut zu bringen: Essen bzw. Nicht-Essen und Politik.
Selbst Frauen, die noch kein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper hatten, bekamen es spätestens dann, wenn sie politisch Karriere machen wollten. Dicke Frauen hatten in der Politik kaum eine Chance, was sich auch bis heute nicht geändert hat. Doch während die nicht-feministische Lieschen Müller noch laut sagen konnte: „Ich bin auf Diät“, mussten die Feministinnen alle so tun, als interessiere sie das nicht, als würden sie nie über ihren Körper nachdenken und vor allem: Nie eine Diät machen. Höchstens mal Heilfasten, der Gesundheit wegen. Das System anprangen, um Lieschen Müller das Leben zu erleichtern. Nur ihr, denn die Feministin selbst war mental ja schon Jahrzehnte weiter.
Die Wahrheit: Nur noch in der Klinik Roseneck habe ich ebenso viele essgestörte Frauen auf einem Haufen gesehen wie in der Politik. Ich finde es toll, dass die jüngeren Feministinnen sich jetzt ehrlich dieses Themas annehmen. Es wird Zeit.
[1] Das stimmt so nicht ganz, ist aber nebensächlich