Vier Wochen sind seit Neunundsiebzigs Schlaganfall inzwischen vergangen und heute habe ich zum ersten Mal eine schriftliche Diagnose gesehen. Gleich als Erstes sticht mir der Begriff »adipositas per magna« ins Auge. Wie bitte? Zur Sicherheit sehe ich noch mal bei Wikipedia nach: Adipositas permagna oder morbide Adipositas, BMI ≥ 40 … Übersetzt soll das wahrscheinlich heißen: Dicker geht’s nicht, Patientin steht bereits mit eineinhalb Beinen im Grab.
Als man sie im Krankenhaus hatte wiegen wollen, weigerte sie sich. Vor Fremden auf eine Waage steigen? Ein Albtraum, wo sie sich doch schon beinah ihr ganzes Leben lang zu dick gefühlt hatte. Weil die Schwester meinte, es handle sich um eine reine Formalität, irgendetwas müsse halt in den Unterlagen eingetragen werden, gab sie ein Fantasiegewicht an. Eins zwischen dem einer Seekuh und eines Elefanten. Die Zahl wurde nicht hinterfragt, landete in den Papieren und beweist, dass die Ärztin sich ihre Patientin nie richtig angesehen haben kann. Morbide Fettleibigkeit bei einer Frau, die 1,60 m groß ist und Kleidergröße 44 trägt?
»Problem erkennen, analysieren, lösen«. Einundachtzig hat noch nie richtig verstanden, weshalb sich sein Lebensmotto nicht ohne Weiteres auf den menschlichen Körper und die Psyche übertragen lässt. Seiner Meinung nach sind medizinische Maßnahmen dazu da, um kaputte Teile zu reparieren oder durch bestimmte Hilfsmitteln zu ersetzen. Wenn die Physiotherapeutin sagt: »Drehen Sie den Kopf nach links«, dann müssen Patient_innen einfach nur der Anweisung folgen, um wieder gesund zu werden. Dass Neunundsiebzig sich nicht mehr an ihre linke Körperhälfte erinnern und deshalb den Kopf nicht nach links drehen kann, begreift er nicht. Gut, etwas nach einem Schlaganfall zu vergessen, ist eine Sache, doch inzwischen hat er ihr das mit rechts und links mehrmals ausführlich erklärt, wieso klappt das immer noch nicht?
Leider ist er nicht die Einzige, der damit ein Problem hat. Immer wieder befestigt das Pflegepersonal die Klingel an der linken Bettseite und wundert sich, weshalb Frau Neunundsiebzig ständig laut nach Hilfe schreit. Oder mitten in der Nacht ihren Mann oder ihre Enkelin anruft, weil sie auf die Toilette muss. Kann diese Patientin nicht wie alle anderen klingeln?
Die Liebste wird aus dem Zimmer geschickt, als zwei Schwestern versuchen, Neunundsiebzig auf den Toilettenstuhl zu setzen. »Sie müssen mitarbeiten, Frau Neunundsiebzig. Linken Fuß nach vorne«, ist durch die geschlossene Tür deutlich zu hören. Anscheinend hofft man, mit entsprechender Lautstärke das »linke Verständnis« wiederbeleben zu können. Es klappt trotzdem nicht, schließlich verfrachtet man sie zurück ins Bett und holt eine Bettpfanne.
Die Enkel_innen reisen an und geben sich große Mühe, Oma und Opa zu unterstützen. Eine von ihnen spricht mit einem Sozialarbeiter über häusliche Pflege, Hilfsmittel und Formulare. Besser gesagt: Sie will mit ihm darüber sprechen, doch entweder versteht er ihre Fragen nicht oder sie seine Antworten. Entnervt sucht sie später im Internet selbst nach den gewünschten Informationen. Zufällig trifft sie auf eine alte Schulfreundin, die auch etwas bzw. jemanden sucht. Nämlich ihre Großmutter, die aus eben diesem Krankenhaus ohne Absprache mit den Angehörigen in ein Pflegeheim verlegt worden ist.
Wir überlegen, Neunundsiebzig vorsichtshalber ein Schild um den Hals zu hängen: »Diese Patientin bleibt hier!« Sie selbst will allerdings ein ganz anderes Schild: »Die Würde des Menschen ist unantastbar!«