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Frau Fünfundsiebzig wird am Knie operiert

Bei mir hat sich in den letzten Wochen das Leben drastisch verändert. Frau Fünfundsiebzig hatte sich endlich dazu durchgerungen, ihre lädierten Knie operieren zu lassen. Seit Jahren hatte sie diese OP vor sich hergeschoben und konnte zum Schluss kaum noch laufen. Erst als Herr Siebenundsiebzig ihr erklärte, dass er sie nicht pflegen könne und eigentlich nur noch die Möglichkeit Pflegeheim sehe, hat sie widerwillig eingewilligt. Allerdings begleitet mit Jammern, Heulen und Vorwürfen. „Der Mann will mich in ein Pflegeheim stecken, dabei ist er selbst schon halb dement!“ – „Ihr spekuliert ja alle nur darauf, dass ich das nicht überlebe und ihr mich endlich los seid!“ usw.  Als sie aus der Narkose aufwachte, war das Erste, das sie sagte, dann auch: „Warum habt ihr mir das angetan?“

Bevor sie ins Krankenhaus ging, hat sie ihre Habseligkeiten schriftlich aufgeteilt und ihre Beerdigung geplant. Sie will ja in einem Friedwald begraben werden. Da der hiesige Friedwald noch nicht bezugsfertig ist, sollte ich ihre Leiche nach Holland bringen, dort verbrennen lassen, die Urne über die Grenze schmuggeln und so lange aufbewahren, bis sie im Friedwald verbuddelt werden kann.

Obwohl sie die Operation gut überstanden hat und die Heilung nach Plan verlief, konnte sie mit ihrem Theater einfach nicht aufhören und fand jeden Tag was Neues, das angeblich beschissen war und sie uns zum Vorwurf machen konnte. Glücklicherweise hatte die Enkelin momentan an der Uni nicht viel zu tun und kam zu Hilfe. Sie entpuppte sich als die Einzige, die ihre Oma nicht nur einigermaßen ertragen, sondern sie auch zur Räson bringen konnte, wenigstens zeitweise. Wir anderen, ganz besonders Herr Siebenundsiebzig und ich, schmiedeten täglich Fluchtpläne. Auswandern, weit weg von dieser Frau.

Der Sohn ließ sich erst gar nicht blicken, sondern schickte nur über Fleurop Blumen. Der Enkel behauptete, an seiner Uni unabkömmlich zu sein. Und die herzallerliebste Busenfreundin von Frau Fünfundsiebzig, ihre angebetete Exschwiegertochter, irrte angeblich durch sämtliche Krankenhäuser der Region und wurde nicht fündig. Warum sie nicht in der Klinik vor ihrer Haustür nachgefragt hat, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben. Was sie allerdings nicht suchen musste, war die schriftliche Aufteilung des Schmucks von Frau Fünfundsiebzig: „Du weißt, dass ich die Perlenkette und den Sowiesoring bekommen soll?“

Zehn Tage nach der Operation findet die Enkelin dann morgens Herrn Siebenundsiebzig mit einer Platzwunde am Kopf und einem Blutdruck in schwindelnder Höhe. Er war wohl nachts gefallen, wahrscheinlich auch eine Zeit bewusstlos, lässt sich alles nicht mehr feststellen.

Somit hatten wir nun zwei Leutchen im Krankenhaus. Frau Fünfundsiebzig tillte im zweiten Stock, wollte ihren Mann sehen und überlegte sich schon, wie er beerdigt wird. „Den musst du auch nach Holland bringen. Und dann kommt er in einen Nistkasten auf meinem Baum.“

Herr Siebenundsiebzig lag im ersten Stock, wollte nur schlafen und flehte mich an „ihm diese Frau vom Hals zu halten!“

Frau Fünfundsiebzig beschloss, die Reha sausen zu lassen, da wollte sie eh nicht hin und war glücklich, nun einen richtigen Grund gefunden zu haben. Herr Siebenundsiebzig drohte mit Scheidung nach 52 Jahren, wenn sie nicht geht. Worauf Frau Fünfundsiebzig sich eine eigene Wohnung suchen wollte. Meine süße Liebste, die sonst ja nicht sehr schlagfertig ist, meinte trocken: „Um dir eine Wohnung zu suchen, musst du auch erst mal laufen können. An der Reha geht also kein Weg vorbei.“

Gespräch zwischen dem Chefarzt und Herr Siebenundsiebzig: „Sie sind ja im Ruhestand.“ – Herr Siebenundsiebzig: „Ja!“ – Ich: „Er arbeitet doch noch!“ – Herr Siebenundsiebzig: „Ja, einen Tag in der Woche.“ – Der Arzt: „Das ist doch eigentlich gut, man soll aktiv bleiben.“ – Ich: „Einen Tag in der Woche verbringt bei seinen Kunden. Den Rest der Woche arbeitet er daheim.“ – Herr Siebenundsiebzig: „Ach was, das ist höchstens noch ein Tag in der Woche.“ – Ich: „Und wenn du Vorträge hältst und auf Messen gehst?“ – Der Arzt: „Wie viel arbeiten Sie denn nun wirklich?“ – Herr Siebenundsiebzig: „So 40 Stunden die Wochen!“ – Der Arzt: „Das nennen Sie Ruhestand?“ – Herr Siebenundsiebzig: „Als ich noch GEARBEITET habe, waren es 80 Stunden die Woche.“

Anschließend sagt der Arzt zu mir: „Ihr Vater braucht absolute Ruhe, keinen Stress und keine Aufregung. Er muss seine Arbeitszeit gewaltig reduzieren. Am besten geht er wirklich in den Ruhestand, sonst …“ –  Ich: „Sonst was?“ – „Friedhof!“

Drei Tage später Herr Siebenundsiebzig: „Der Arzt hat gesagt, ich bin wieder voll einsatzfähig, ich soll es nur noch zwei, drei Tage ruhiger angehen lassen. Dann ist alles in Ordnung.“ – Ich: „Mit welchem Ohr willst du das gehört haben? Du weißt, dass du auf dem linken Ohr taub bist?“

Der Sohn meinte: „Die Welt ist ein Irrenhaus und wir die Insassen, aber im Moment haben wir die Abteilung mit den Gummizellen erwischt!“ Ansonsten ist er recht glücklich darüber, dass Frau Fünfundsiebzig ihm immer noch die Scheidung übel nimmt, die zweite Frau nicht mag und der Kontakt sich schon seit Jahren auf ein Minimum beschränkt.

Zurzeit ist Herr Siebenundsiebzig im Schwarzwald und geht spazieren. Er ist stinksauer, weil wir ihm sein Auto weggenommen haben. Er hat dann versucht, sich das Fahrzeug der Enkelin anzueignen, konnte aber den Schlüssel nicht finden. Ununterbrochen wiederholt er, wie gut es ihm geht und dass er topfit sei und er sich das alles höchstens bis Weihnachten gefallen lasse. Zum Beweis misst er alle fünf Minuten seinen Blutdruck und löst Sudoku.

Frau Fünfundsiebzig haben wir in der Reha abgegeben. Sie schmollt und ruft ununterbrochen den ganzen Tag Leute an, um zu erzählen, wie gemein ihre Familie ist. Die Enkelin ist für eine Woche wieder zur Uni gefahren und ich bin auf der Suche nach einer Haushaltshilfe und Ratgebern, wie man solchen Menschen umgeht. Wenn ich nicht gerade übers Auswandern nachdenke.

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