Meine Mutter wurde im Dezember 1933 geboren. Als Baby und Kleinkind kam sie viel an die frische Luft, denn unter der Matratze des Kinderwagens wurden Flugblätter und Ähnliches transportiert. In jenen Jahren war meine Großmutter eine schwer beschäftigte Frau. Mit einem Revolver im Stiefelschaft fuhr sie ihre Tochter in, um und zwischen Mannheim, Ludwigshafen und Umgebung ständig spazieren. Manchmal erlaubte sie sich wie ihre Kolleginnen einen Spaß: Fotos von Hitler oder Goebbels wurden in die Kloschüssel gelegt und frau schiss kräftig auf die Herren.
Dennoch tauchen weder meine Oma noch ihre Schwestern noch ihre Kolleginnen in Geschichtsbüchern als Widerstandskämpferinnen oder gar Verfolgte des Naziregimes auf. Sie kamen körperlich nicht zu Schaden, sie hatten neben enormen Mut auch unwahrscheinlich viel Glück. Und außerdem: Wen interessierte denn nach dem Krieg noch, was diese Frauen gemacht und welche Ängste sie ausgestanden hatten? Lächerliche Kleinigkeiten im Vergleich mit all den anderen Katastrophen jener Zeit.
Die neuerliche Diskussion um das Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen war zunächst an mir vorbeigerauscht. Aus verschiedenen Gründen sind Denkmäler sowieso nicht mein Fall und Berlin ist sehr weit weg.
Doch dann las ich gestern zufällig einen offenen Brief der Leiter der KZ Gedenkstätten, in dem sie vor einer Verfälschung der Geschichte warnen. Plötzlich war mein Interesse geweckt. Denn unterschrieben wurde dieser Brief von 23 Männern und 2 Frauen. Solche Zahlenverhältnisse machen mich immer neugierig und gleichzeitig äußerst misstrauisch.
Verkürzt und salopp geht es um die Frage: Dürfen Lesben auf diesem Denkmal erscheinen? Wurden Lesben von 1933 – 1945 verfolgt?
»Nein, nein und nochmals nein!« lautet die einheitliche Aussage der 23 Männer und zwei Frauen. Verfolgt wurden ausschließlich schwule Männer. Ihrer Ansicht nach haben Lesben unter den Nationalsozialisten nicht mehr als der Rest der Bevölkerung gelitten und die wohl einzige Einschränkung in ihrer Lebensweise bestand darin, dass ihre Zeitschriften verboten wurden.
Wow, ich lerne doch immer dazu: Bisher hatte ich noch keine Ahnung davon, dass meine lesbische Identität sich auf das Lesen von L-Mag oder lespress beschränkt.
Schon als ich vor Jahren das erste Mal von dieser Diskussion hörte, fragte ich mich: Weshalb soll dieses Denkmal eigentlich »Für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen« heißen? Warum sorgt man nicht für klare Verhältnisse und nennt es »für die im Nationalsozialismus verfolgten Schwulen«?
Die Antwort darauf gehört mit zu dem Themenkomplex, den ich neulich schon mal bei »Lesben und Schwule an die Macht?« beschrieben habe.
Es ist ganz einfach: Lesben zählen immer dann zu den Homosexuellen, wenn ihr Einsatz benötigt wird. Solange noch darum gekämpft werden musste, dass überhaupt ein Denkmal entsteht, war auch ihr Engagement gefragt. Wäre von Anfang an klar und deutlich gesagt worden: Es geht hier ausschließlich um schwule Männer, hätte sich so manche Lesbe überlegt, wie viel Energie sie für diese Diskussion aufbringen will. Oder ob sie sich ihre Kräfte nicht besser für ein anderes Projekt, mit dem sie sich auch identifizieren kann, aufsparen soll?
Formal mag ja richtig sein, dass Lesben im Gegensatz zu Schwulen nicht systematisch verfolgt wurden. Aber doch nicht, weil man mit ihnen verständnisvoller als mit Schwulen umging, sondern weil Frauen grundsätzlich jegliche Sexualität abgesprochen wurde. Insofern hatten sie es nicht nur während des Nationalsozialismus einfacher, sondern auch in den Jahrzehnten danach. Eine Tradition, die sich bis heute hartnäckig gehalten hat: Zwei Kindergartenmädchen dürfen Händchen halten, ohne dass davon groß Kenntnis genommen wird. Während eine solche Liebkosung hingegen bei zwei Jungen im gleichen Alter zumindest kurzes Nachdenken auslöst.
Frauen haben keine Sexualität = es gibt keine Lesben = lesbische Frauen waren keine Opfer des Nationalsozialismus.
Fielen lesbische Frauen dennoch mal auf, weil man sie sozusagen in flagranti bei sexuellen Handlungen erwischt hatte, wurden sie kurzerhand als Prostituierte oder Schwachsinnige aktenkundig und entsprechend »behandelt«. Dank dieser Praxis können die Unterzeichner_innen des offenen Briefes noch heute behaupten: Lesben waren keine Opfer des Nationalsozialismus, ihnen wurde nur das Lesen ihrer Zeitungen verboten …
und sie nutzen dabei dieselben Gedankenkonstrukte wie jene, die im Brustton der Überzeugung verkünden, Frauen wie meine Oma seien keine Widerstandskämpferinnen gewesen.
© Nele Tabler 2010
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