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Gefangen in Walldorf

Sommer 2003, der heißeste Sommer seit Jahrzehnten. An ihrem ersten Urlaubstag baut die Liebste einen Ventilator neben dem Bett auf, schließt die Vorhänge und verkündet, erst wieder aufzustehen, wenn die Temperaturen um mindestens 20 Grad gesunken sind.


Doch das mit den Vorhängen war ein Fehler, eindeutig. Denn nun fällt mir erst so richtig auf, wie unmöglich sie aussehen. Sie passen weder zur Einrichtung noch zur Bettwäsche. Die Werbung von Ikea »Stoffe für 1 pro Meter« kommt da gerade zur rechten Zeit. Sommerschlussverkauf, außerdem hat uns die Tante zum Geburtstagskaffee eingeladen. Die Liebste kann meckern und mosern, soviel sie will, sie muss aufstehen! Ab zu Ikea und dann zur Tante!

Leider hatte das Bedürfnis nach billigen Stoffen, Billyregalen und Hackfleischbällchen an diesem Tag noch tausend Andere überfallen. »Sieh dir das an!« stöhnt die Liebste vorwurfsvoll, als wir kurz vor Ikea in einem Stau stehen. »Schnapsidee!«

Auf dem Parkplatz geraten wir beinah in eine Schlägerei, als ein dicker Mercedes mitsamt seinem dicken Fahrer meint, er habe die letzte freie Lücke zuerst gesehen. Und selbst wenn er sie nicht zuerst gesehen hätte, ein gepflegter Mercedes mit Mann am Steuer hat immer Vorrang vor einem Schrottgolf mit Frau am Steuer.

Hinter der Eingangstür fallen wir unangenehm auf, als wir nach den gelben Taschen fragen, denn sie liegen direkt vor unserer Nase. Hitze macht nicht nur aggressiv, sondern auch dumm. In der Stoffabteilung würgt die Liebste beinah eine Verkäuferin, die ihr das System des Stoffkaufs nicht verständlich erklären kann. Wütend stapft sie mit einem schweren Stoffballen über der Schulter durch die Gegend. Ich verziehe mich schnell in die Geschirrabteilung, bevor sie ihn mir über den Kopf hauen kann.

Unser Ikea ist gar nicht so weit von Kleinkleckersdorf entfernt. Gerade mal zwei Autobahnausfahrten weiter, im reizenden Städtchen Walldorf gelegen. Selbst Menschen, die unsere Gegend gar nicht kennen, haben schon oft von Walldorf gehört. In Walldorf sitzt nämlich auch der Softwaregigant SAP. Ziemlich viel Ehre für so ein kleines … ähm … Kaff. Alle Walldorfer_innen mögen mir verzeihen.

Nun denn, die Liebste am Steuer, ich daneben, die Billyregale und zehn Meter Stoff hinter uns, die Heckklappe halb offen und provisorisch festgebunden, die Fenster runtergekurbelt, durchgeschwitzt, durstig und mit den Nerven am Ende, suchen wir den Weg Richtung Tante, einige Dörfer hinter Walldorf. Natürlich wissen wir wenigstens so ungefähr, wohin wir fahren müssen. Nämlich nicht in Richtung Autobahn.

Ganz langsam und vorsichtig fahren wir an das Schild »Umleitung« heran. Okay, Umleitungen gibt es eben. Umleitung, Umleitung, als wir das fünfte Mal an derselben Pizzeria vorbei kommen, begreifen wir, dass uns diese Umleitungen immer im Kreis herumschicken.

Also biegen wir an der nächsten Ecke nicht mehr rechts, sondern links ab. Zwanzig Meter weiter kommt das nächste Umleitungsschild. Umleitung, Umleitung und die bereits bekannte Pizzeria. Schade nur, dass sie Ruhetag hat, sie hätte an diesem Tag sicher ein Geschäft machen können. Denn der rote Renault und der grüne Fiat verfolgen uns bereits seit dem Ikea Parkplatz und suchen anscheinend ebenso verzweifelt den Ausgang aus Walldorf wie wir.

Neue Straße, neues Pech. Diesmal kommen wir sogar am Rathaus vorbei. Dann links, und wirklich, in der Ferne sehen wir den Ortsausgang, Hipphipphurra, doch er bleibt unerreichbar. Gleich zwei Umleitungsschilder, eines zeigt gerade aus, das andere rechts, zwingen uns in andere Richtungen. Jedenfalls nicht aus Walldorf heraus, sondern wieder zur Pizzeria.

Gefangen in Walldorf, ein Titel für einen neuen Horrorfilm. Wer ihn drehen will, kann gern das Copyright von mir bekommen. Als wir wieder am Rathaus vorbeikommen, will die Liebste anhalten und Krach schlagen. Ich kann sie nur mit Mühe und dem Versprechen, eines Tages mal darüber zu schreiben, davon abhalten.

Schließlich die Erlösung: das Autobahnschild. Die Tante muss ihren Kaffee alleine trinken, wir fahren wieder nach Hause. Der rote Renault hupt noch mal freundlich, bevor er uns überholt, den grünen Fiat haben wir unterwegs irgendwo verloren.

Sommer 2004, der verregneste Sommer seit Jahren.

»Mich gibt es neuerdings bei Ikea«, teilt mir mein Sohn mit und hält mir den neuen Ikea Katalog unter die Nase. Tatsächlich, ein Computertisch trägt seinen Namen. Glückliches Kind, vielleicht wird sein Name nun endlich auch in Deutschland gebräuchlicher.

Eigentlich ein Grund, Ikea mal wieder einen Besuch abzustatten. Außerdem feiert das schwedische Möbelhaus ja Geburtstag, die vielen Sonderangebote locken. Der Wodka geht auch langsam zur Neige und die leckere Schokolade vermissen wir schon lange.

»Sollen wir? Sollen wir nicht?« Die Liebste und ich sind unsicher. Wir haben immer noch nicht den letzten Ausflug zu Ikea verdaut, dabei ist er schon über ein Jahr her. Eine Zeitungsanzeige nimmt uns die Entscheidung ab. Eine Frau aus Walldorf verkauft alte EMMAs. Auf die bin ich schon lange scharf.

Aber schon das Telefongespräch wird chaotisch. Die Frau will mir den Weg erklären: »Dann rechts, dann …«, während ihre Freundin aus dem Hintergrund immer dazwischen ruft: »Das geht nicht, da ist gesperrt! Da wird gebaut! Da ist eine Umleitung!«

Schließlich drucke ich mir einen Routenplaner aus. Zunächst geht auch alles gut. Wir finden nicht nur Walldorf, sondern auch das Industriegebiet, den Bahnhof, die Kirche … ab da erscheinen die bereits bekannten Umleitungsschilder. Ein Jahr danach sieht Walldorf immer noch aus wie eine einzige große Baustelle. Rechts, links, geradeaus, selbst die Pizzeria sehen wir wieder. Dieses Mal hat sie sogar geöffnet.

Wir fahren am Rathaus vorbei, und der Liebsten fällt ein, dass ich bisher immer noch nicht über diesen schrecklichen Tag geschrieben habe. Die Gassen werden immer enger, dabei sind wir angeblich auf einer der Walldorfer Hauptverkehrsstraßen. Als uns ein LKW entgegen kommt, bleibt nur noch das Ausweichen auf den Bürgersteig. Zwei Ecken weiter sind wir endlich am Ziel. Doch zurück wird es schwierig.

»Und nun?« Wir wissen beide nicht, wohin. Wo ist denn nun Ikea? Kein Plan, kein Schild, nur Umleitungen und Baustellen.

Walldorf ist klein, Ikea ist groß, das kann frau doch eigentlich weder übersehen noch verfehlen. Wieder fahren wir im Kreis, rechts rum, links rum, durch die Mitte … würden wir ja gern, ist aber verboten. Wenigsten schwitzen wir dieses Mal nicht, nein, es ist kalt und wir frieren. In einer Seitenstraße glauben wir den grünen Fiat aus dem letzten Jahr zu sehen.

So geht das also: Einfach in Walldorf das Auto abstellen und zu Fuß aus dem Kaff flüchten!

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