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Geschwüre am A …

Die Liebste und ich fühlen uns so unwohl wie schon lange nicht mehr. Es ist heiß, wir haben dummerweise zwei Termine gleichzeitig und stehen unter Zeitdruck. Die Menschen um uns herum erscheinen wie Figuren aus einem Panoptikum. Wir kennen die Hälfte gar nicht. Verzweifelt suchen wir nach Gesprächsthemen, um den Small Talk in Gang zu halten. Ich weiß nicht mehr, was ich erzählt habe …


»Duuuuuuuuuu hast etwas geschrieben?« fragt die Frau, die mit mir verwandt ist. Und es klingt wie: »Duuuuu kannst lesen und schreiben?«

Tja, was soll eine Autorin darauf antworten? Wir entschieden uns für: »Wir müssen leider weiter, auf Wiedersehen!« Das »Nimmer« vor dem Wiedersehen denken wir uns und sprechen es erst im Auto laut aus.

Der Herr neben mir, ebenfalls Autor und schlauer als ich, denn er hat eines seiner Bücher als Gastgeschenk mitgebracht, nutzt die Gelegenheit und ergreift ebenfalls die Flucht. Vor der Haustür treffen wir mit Neuankömmlingen zusammen und gemeinsam lügen wir, dass sich die Balken biegen. »Wie schade, dass wir keine Zeit mehr haben!« – »Wie schade, dass ihr schon gehen müsst!«

Verwandte und die Sonne, je weiter weg, desto besser, sagt ein mexikanisches Sprichwort. Und in Estland heißt es: »Verwandte sind gut, wenn sie selten kommen und weit weg wohnen.« Die Chinesen mahnen: »Verwandte besuche selten!« Die Isländer meinen: »Verwandte sind am schlimmsten zu Verwandten.« In Afrika werden Verwandte mit einem Dornenmantel verglichen und man soll ihnen, warum auch immer, kein Messingstück schenken. Unbekannter Herkunft ist das etwas sehr direkte Zitat: »Verwandte sind wie ein Geschwür am Arsch!«

Mir zeigen diese Sprichwörter eines, schon lange vor der Globalisierung war der Umgang mit Verwandten ein globales Problem. Ist frau nicht gerade das Produkt einer künstlichen Befruchtung und in einer Retortengebärmutter aufgewachsen, ist sie mit Verwandten gestraft. Mit Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen und ähnlichem Kroppzeug.

Es soll ja Familien geben, in denen die Pflege der verwandtschaftlichen Beziehungen intensiv betrieben wird und die Großcousine der Nichte der Schwägerin immer noch zu dem engeren Verwandtenkreis zählt. Also dem Teil der Bevölkerung, der zu Geburtstagen und anderen Familienfesten eingeladen wird, und dem man zumindest an Weihnachten einen Gruß schickt. Den Rest der Verwandtschaft trifft frau dann auf Beerdigungen.

»Guten Tag, ich bin deine Cousine fünften Grades väterlicherseits« so oder so ähnlich geht es bei dem anschließenden Leichenschmaus zu.

»Kennst du mich nicht mehr?« fragt einer und guckt säuerlich. »Dein Großvater war der Neffe meines Patenonkels.« Dass unsere einzige und gleichzeitig letzte Begegnung stattfand, als ich zwei Jahre alt war und somit fast schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt, spielt dabei keine Rolle.
Einmal verwandt, immer verwandt. Blut ist dicker als Wasser, heißt es. Auch wenn das Blut gelegentlich ziemlich verdünnt ist. Denn ca. zehn Prozent der Bevölkerung sollen nicht von denen abstammen, mit denen sie verwandt sind.

Aber noch so ein Sprichwort besagt ja »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß« und wo beim besten Willen keine Ähnlichkeit mehr zu finden ist, wird sie herbeigedichtet. Wir alle haben die Nasen von Großtante Thusnelda und die Ohren vom Urururgroßvater.

Dass das Blut und die Nasen und die Ohren nicht gleichzeitig auch Sympathie und gleiche Interessen bedeuten, wissen wir alle. X würden wir wahrscheinlich nie im Leben kennenlernen, er ist uns so fremd wie ein Wesen vom Mars. Trotzdem laden wir ihn jedes Jahr wieder zum Geburtstag ein. Ertragen seine dummen Sprüche und schlagen drei Kreuze, wenn er wieder geht. Dass Y mit ihrem unerträglichen Gegackere mit mir verwandt sein soll, sprich unsere Gene ähnlich sind, bereitet mir schlaflose Nächte.

Viele gehen zu verwandtschaftlichen Anlässen auch nur, um mal zu gucken, was aus der einen und dem anderen geworden ist. Klein Otto war ja immer ein schlechter Schüler gewesen, ob er auch als Erwachsener versagt?

Schön, wenn Klein, nein inzwischen, Groß Otto tatsächlich als Penner daher kommt und alle Vermutungen bestätigt. Was hat man selbst nicht alles aus den mitgegebenen Genen gemacht, hätte er doch auch tun können. Dass Groß Otto einfach nur keine Lust hat, sich wie ein Pfau herauszuputzen und seine Einkommenssteuererklärung sich in exorbitanten Bereichen bewegt, wird geflissentlich übersehen. Will man auch gar nicht wissen.

Nirgendwo werden Vorurteile so sorgfältig gehegt und gepflegt wie innerhalb der Verwandtschaft.
»Was machst du denn?« ist eine beliebte Frage. Und wehe die Antwort passt nicht mit den Erwartungen zusammen. »Angeber!« und »Was die alles erzählt!« flüstert A leise ins Ohr von B. »Das glaube ich nie im Leben!«

Der eigene Sohn hingegen steht gerade vor der Promotion, die Tochter wurde vor einer Woche zur Abteilungsleiterin befördert und der Enkel, der allen auf die Nerven geht, hat eben diese neue Modekrankheit. Auch mit Krankheiten kann gepunktet werden. Je exotischer und dramatischer, desto besser. Wer nicht mit dem neuen Haus oder dem Porsche angeben kann, ist eben krank.

Hemmungslos wird über nicht Anwesende hergezogen. »Z kommt sowieso nur, wenn es etwas abzustauben gibt.« C konnte sich nicht einmal die Anfahrt leisten, ist er doch seit Jahren arbeitslos. Von D hat man schon lange nichts mehr gehört. Vielleicht macht sie ja endlich eine Entziehungskur?
Nein, Eins, Zwei und Drei hat man erst gar nicht eingeladen. Die wissen doch nicht einmal, wie man mit Messer und Gabel umgeht. Was sollen denn Freunde und Nachbarn denken, wenn man mit solchem Gesocks verwandt ist?

Wie war das noch? »Verwandte sind wie ein Geschwür am Arsch«. Geschwüre lassen sich weg operieren, Göttin sei Dank.

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