Die Liebste hat sich in der letzten Zeit äußerlich sehr verändert. Ihre Nase ist um das Dreifache angeschwollen und stets gerötet. Ihre Augen tränen und die Laute, die sie ununterbrochen von sich gibt, sind zumindest als Dauergeräusche über Monate hinweg ungewöhnlich: »Hatschi! Hust, hust! Hatschi! Rassel, röchel!«
»Ich verstehe nicht, weshalb Ihre Erkältung nicht besser wird«, wundert sich der Hausarzt, als die Liebste das dritte Mal in zwei Monaten bei ihm vorstellig wird. »Was treiben Sie denn?«
»Nichts Besonderes«, keucht sie zwischen zwei Hustenanfällen und grapscht nach einem Taschentuch. Der Hausarzt schüttelt ungläubig den Kopf und verschreibt eine neue Ladung Echinacea.
Ich kann die Aussage der Liebsten bestätigen. Sie treibt wirklich nichts Ungewöhnliches. Sie nimmt nur am öffentlichen Nahverkehr teil wie Millionen andere Menschen auch.
Sie steht täglich um kurz nach vier auf, steigt um halb sechs in den ersten Bus des Tages, um nach vier bis fünfmaligen Umsteigen um acht Uhr endlich ihre Schule in einer fünfundsechzig Kilometer entfernten Stadt zu erreichen.
So weit die Theorie. Vorausgesetzt, alle Busse und Züge fahren wie vorgesehen. Hat nur einer davon einige Minuten Verspätung, kommt sie auch erst mal um neun oder zehn Uhr in ihrer Schule an.
Und das ist die Praxis, die sich, wie wir alle wissen, immer gewaltig von der Theorie unterscheidet.
Verspätungen haben Bus und Bahn sehr oft. Meist aus unerfindlichen Gründen, denn die Zugbegleiter spielen mit ihren Fahrgästen gern Verstecken und können nicht befragt werden.
Manchmal gibt es Störungen, weil zu heiß ist und die Schienen sich verbiegen. Manchmal ist es zu kalt und die Oberleitungen frieren ein. Und einmal die Woche legt sich ein Selbstmörder auf die Gleise und bringt den ganzen Bahnverkehr von Mannheim bis zum Bodensee zum Erliegen.
Schon der erste Bus am Morgen fährt nach Lust und Laune. Oder besser nach der Armbanduhr des Busfahrers, die er nach der Küchenuhr seiner Großmutter aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gestellt hat
»Oma, wie spät haben wir?«
»Weiß ich nicht mein Junge. Die Uhr geht doch nicht mehr richtig, seit dein Großvater sie 1958 reparieren wollte.«
Nachdem die Liebste den Bus anfangs mehrmals verpasste und wir im Auto hinterher jagen mussten, steht sie nun zehn Minuten vor der geplanten Abfahrt bei strömenden Regen oder Schneetreiben an der ungeschützten Bushaltestelle.
Beim Wechsel vom Bus in den Zug ist sie ebenfalls Wind und Wetter ausgesetzt. Zugige Bahnhöfe ohne Unterstellmöglichkeiten scheinen eines der Hobbys von Herrn Mehldorn zu sein. Und Sitzgelegenheiten für die Wartenden hält er anscheinend für überflüssigen Luxus.
Der nächste Umsteigebahnhof der Liebsten ist wenigstens überdacht. Dafür ändern sich hier minütlich die Abfahrtsgleise. Sprints von Gleis drei nach zehn und wieder zurück nach zwei, einschließlich der vielen Treppen rauf und runter, sollen die PendlerInnen wohl fit halten.
Die scheppernde, fast unverständliche Stimme aus den Lautsprechern, die sie dabei anspornt, schult nebenbei das Gehör. Wenigstens anfangs, später führt sie zur Taubheit. Das macht aber nichts. Die tauben PendlerInnen sind dann bereits so geübt, dass sie instinktiv den noch Hörenden einfach hinterher spurten.
Haben die Verantwortlichen besonders gute Laune, stellen sie an den falschen Gleisen leere Züge mit falschen Beschilderungen bereit.
»Guck mal, Eugen, wie gemütlich es sich der Pendler da gemacht hat. Wann sagen wir ihm, dass er im falschen Zug sitzt?«
»Hat noch Zeit. Lass ihn erst sein Pausenbrot auswickeln. Der richtige Zug fährt erst in fünf Minuten ab!«
Im Winter ist es in Zügen eiskalt, da die Heizungen nie funktionieren. Im Sommer ist es brütend heiß. Um nicht den Erstickungstod zu sterben, öffnen die Fahrgäste alle Fenster, sitzen oder stehen im Zug im Zug und holen sich die Bibbs, wie es hier so schön heißt.
Heimwärts ist es nicht besser. Jeden dritten Tag ruft die Liebste an. »Kannst du mich abholen?«
»Wo bist du denn?« frage ich zurück und überlege gleichzeitig, wo die Landkarte schon wieder abgeblieben ist.
Der nächste Zug ist einfach nicht gekommen und hat sie und mehrere LeidensgenossInnen in der Pampa stehen lassen. Oder der erste Zug hat irgendwo angehalten und fährt nicht mehr weiter. Wahrscheinlich wohnt der Zugführer dort und wollte pünktlich Feierabend machen. Schließlich hat seine Frau nur einmal im Jahr Geburtstag.
An der letzten Umsteigestelle ergreift der Bus exakt nach Fahrplan drei Minuten vor der möglichen Ankunft des Zuges die Flucht vor Fahrgästen. Spätestens dort hole ich sie dann ab.
Billig und schnell soll der öffentliche Nahverkehr die Menschen von A nach B bringen. Und nebenbei die Umwelt und gleichzeitig die Nerven der daran Teilnehmenden schonen. Das behauptet wenigstens die Politik, wenn sie wieder mal die Mineralöl- oder Ökosteuer anhebt und dabei angeblich hofft, dass mehr Menschen vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen.
Böse Zungen behaupten allerdings anderes: der öffentliche Nahverkehr dient der Sanierung der Rentenkasse. ArbeitnehmerInnen, die jahrelang daran teilgenommen haben, können durch frühes Ableben ihre Renten nicht mehr verprassen.
Lieber Herr Doktor X: Fahren Sie einmal mit Bus und Bahn, dann wissen Sie, was die Liebste so treibt.