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Herr Zweiundneunzig, Corona und ein Krankenhaus im Odenwald

Dass die ärztliche Versorgung auf dem Land eine Katastrophe ist, wussten wir schon lange. Trotzdem hätten wir nie für möglich gehalten, was die letzten drei Tage mit Herrn Zweiundneunzig passiert ist. Nach einem zweijährigen Ausflug auf die schwäbische Alb wollte er eine knappe Woche bei uns verbringen, bevor er dann in ein Pflegeheim in unserer Nähe einziehen sollte. Schon bei seiner Ankunft merkten wir, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Er rannte ständig auf die Toilette, hatte Schwierigkeiten auf der Treppe und wirkte ziemlich desorientiert.

Im Laufe des ersten Tages verschlimmerte sich sein Zustand beinah stündlich. Während wir noch versuchten, einen Hausarzt zu kontaktieren, unserer war im Urlaub, die Vertretung hatte erst abends Sprechstunde, genau wie sein früherer Arzt, brach Herr Zweiundneunzig im oberen Stockwerk zusammen. Also wählte ich 112, etwas anderes wollte mir gerade nicht einfallen. Der RTW kam, man untersuchte ihn und nahm ihn schließlich mit. Die Liebste und ich packten ein paar Dinge zusammen, versorgten noch schnell die alte Hündin und fuhren dann ebenfalls ins Krankenhaus nach Buchen/Odenwald. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir zum Patienten vorgelassen wurden und noch mal so lange, bis endlich eine Ärztin auftauchte. Lächelnd erklärte sie uns, dass Herr Zweiundneunzig vollkommen gesund sei und wir ihn mit nach Hause nehmen könnten. Na ja, er habe möglicherweise ein Problem mit der Prostata, deshalb sei ein Katheter gelegt worden. Aber alles kein Problem, die Schwester werde uns zeigen, wie das funktioniere und außerdem sollten wir ihn umgehend einem Hausarzt vorstellen. Der Hausarzt von Herrn Zweiundneunzig praktizierte zweihundertfünfzig Kilometer entfernt auf der Alb und befand sich zudem genau wie unser Hausarzt im Urlaub. Es war bereits nach 20 Uhr und der nächste Tag ein Feiertag. Nicht das Problem des Buchener Krankenhauses, wurde uns erklärt. Auch mein heftiger Protest, dass weder ich noch die Liebste eine Ahnung hätten, wie man mit einem Blasenkatheter umgeht, interessierte. Währenddessen lag Herr Zweiundneunzig mit knallrotem Kopf auf einer Liege, zerrte an dem Katheter, schrie ständig, er müsse pinkeln und nickte immer wieder kurz ein. Nach Ansicht der Ärztin war er pumperlgesund, das bewiesen angeblich alle seine Werte. Ich fragte nach einem Coronatest. Wir hatten bereits mittags versucht, ihn zu testen, was er sich jedoch nicht hatte gefallen lassen. Ambulant werde nicht getestet und die Sowieso Werte würden anzeigen, wenn er Corona habe. Da sei aber alles in bester Ordnung. Das Gespräch eskalierte, besonders nachdem man uns sinngemäß unterstellte, wir wollten ihn nur loswerden, um in Urlaub zu fahren. Herr Zweiundneunzig zerrte weiter an dem Katheter, hustete, röchelte und japste nach Luft. Am Ende blieb uns nichts anderes übrig, ihn wieder mitzunehmen. Die Liebste saß am Steuer, während ich auf der Rückbank telefonisch vergeblich nach Rat suchte und durch ein Missverständnis eine Verwandte beinah zu Tode erschreckte. Zuhause riss Herr zweiundneunzig weiter am Katheter, hustete und beschimpfte mich. Schließlich sei nicht er das Kind, sondern ich und ich hätte ihm gar nichts zu sagen. Nach ungefähr zwei Stunden brach er erneut zusammen und wir riefen wieder 112 an. Wir hatten keine Ahnung, was wir sonst hätten tun sollen. Diesmal kamen mehrere junge Männer, die blitzschnell das Kommando übernahmen. Sie stellten fest, dass Herr Zweiundneunzig hohes Fieber hatte und Corona positiv war. Derselbe Mann, der zwei Stunden zuvor noch als vollkommen gesund vom Buchener Krankenhaus entlassen worden war.

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