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Kleinkleckersdorfer Impressionen

Zugezogene, Reingeschmeckte, NeubürgerInnen haben es in einem Dorf sehr schwer. Sie fallen auf, sie kennen die Regeln nicht, sie benehmen sich daneben. Sie wissen nicht, wann es angebracht ist, etwas zu sagen, und wann sie besser den Mund halten sollten.


Meine Liebste stammt aus diesem unserem Dorf, wenigstens meiner Ansicht nach. Alteingesessene betonen allerdings schon mal, dass die Großeltern der Liebsten ja erst in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zugezogen sind, und sie deshalb noch nicht sooo ganz hierher gehört. Auch wenn sie und ihre Familie sich schon recht gut angepasst haben und im Großen und Ganzen wissen, was sich gehört.

Ich wohne seit über neun Jahren hier und bin somit wirklich noch sehr fremd. Eine Exotin, fast schon ein Wesen von einem anderen Stern. Ich spreche den hiesigen speziellen Dialekt nicht und verstehe ihn manchmal auch nicht. Obwohl ich nach den Definitionen der Eingeborenen vielleicht schon eher hierher gehöre als meine Liebste. Denn ein Teil meiner Urur-und-so-weiter-ahnInen stammen aus dieser Gegend. Eine Tatsache, die ich meist tunlichst verschweige. Ich habe keine Lust, neue Verwandte kennenzulernen. Es ist schon schwer genug, denen aus dem Weg zu gehen, die ich kenne.

»Wolle Se Weck?« fragt die Verkäuferin in der Bäckerei eine aus Norddeutschland zugezogene Freundin. Sie ist irritiert. Wieso soll sie weggehen, sie will doch Brötchen kaufen. »Bitte drei Brötchen«, wiederholt sie tapfer.

»Also wolle Se doch Weck!« Missmutig packte die Verkäuferin drei Brötchen in die Tüte und wirft ihr einen Blick zu, der sie erschaudern lässt. Seitdem backt sie ihr Brot selbst.

»Vier Süßstücke, bitte«, verlangt eine andere ortsfremde Freundin ebenfalls in der Bäckerei. »Was wolle Se?« herrscht die Verkäuferin sie an.

»Süßstücke, bitte.«

»Ham mer net!« Die Freundin nimmt all ihren Mut zusammen und zeigt auf die Auslage. »Hier liegen sie doch … die süßen Teilchen!«

»Des sinn Märbs!« Schweigen. Erst als die Freundin verzweifelt schreit: »Dann geben Sie mir eben vier Märbs«, bedient die Verkäuferin sie weiter.

In der Drogerie suche ich nach lila Wäschefarbe und finde nur schwarz und blau im Regal. »Haben Sie auch lila Farbe?« frage ich die Verkäuferin, die desinteressiert neben der Kasse steht.

»Nein! Wer will denn lila?!« sagt sie und starrt weiter in die Luft.

»Hundert Gramm Salami und bitte sehr dünn schneiden«, bestelle ich bei der Verkäuferin in der Metzgerei. Ungerührt schneidet sie vier dicke Scheiben ab. Als ich protestiere, schnauzt sie: »Warum saage Se net glei, dass Se dünne Scheibe hawwe wolle?«

Ich nehme mein Recht als Kirchengemeindemitglied wahr und erscheine zur Wahl der Kirchengemeinderäte. Bohrende Blicke verfolgen mich, bis ich das Wahllokal wieder verlassen habe. Seitdem erhalte ich den Gemeindeboten nicht mehr.

»Gehen Sie in die Apotheke?« fragt mich die Arzthelferin. Als ich bejahe, gibt sie mir einen ganzen Stapel Rezepte mit. Im Auto blättere ich sie erst mal durch. Schade aber auch, dass ich nur einige der Namen kenne. Weiß ich doch nun, wer an Verstopfung leidet und wer einen ekligen Hautausschlag haben muss. Meine eigenen Rezepte hole ich von nun an immer persönlich ab.

In der Apotheke stehen mehrere Weißkittel herum. Einer starrt aus dem Fenster, eine guckt in den Computer. Eine zählt Geld, eine unterhält sich mit einer Frau und streichelt ihren Hund. Geduldig warte ich und warte. Erst als ich mit den Fingern auf den Tresen trommele und Blicke der Marke »Ich fresse euch gleich!« um mich werfe, werde ich bedient. Pampig knallt mir die Hundedame ein falsches Medikament hin.

An der Fleischtheke im Supermarkt liegen bei den bereits gebratenen Schnitzeln und Hähnchenkeulen auch Teile, die sehr lecker aussehen. Aber ich kann sie nicht identifizieren. »Was ist das?« frage ich und zeige mit dem Finger darauf. Erst beim dritten Nachfragen reagiert eine der Verkäuferinnen, die mit einer anderen ein Privatgespräch führt. »Hexle!«

Was zum Teufel sind Hexle? Ich traue mich nicht, noch einmal zu stören und kaufe ich sie trotzdem, als die beiden endlich ihr Gespräch beendet haben. Zu Hause stelle ich fest, dass es keine Hexen, sondern kleine Haxen sind.

Unsere Besucherin aus der Großstadt ist auf Hundertachtzig, als sie bei uns eintrifft. »Ich bin noch in der Metzgerei gewesen«, erzählt sie. »Bis ich wieder nach Hause komme, sind die Läden doch geschlossen.«

Ich grinse breit. »Und? Bist du bedient worden?«

»Erst ja, von einer Auszubildenden. Sie war freundlich und höflich. Dann kam der Chef aus dem Hinterzimmer angewackelt und hat sich geweigert, mir Kassler zu verkaufen. Hätte er nicht, hat er behauptet. Obwohl es in der Auslage lag und ich mit dem Finger darauf gezeigt habe. Das wäre kein Kassler. Hat der noch alle Tassen im Schrank?«

Im Zuge von Recherchen über Konzentrationsaußenlager in Schlesien gerate ich zufällig auf eine Seite, die mir ein Außenlager in Kleinkleckersdorf anzeigt.

Ich frage die Liebste danach. Sie kann sich nur dunkel daran erinnern, davon einmal gehört sie haben. Allerdings gibt es einen pensionierten Pfarrer, der sich damit beschäftigt hat.
Jahre später entsteht auf Betreiben dieses Pfarrers an der Stelle des Außenlagers eine Gedenkstätte. Ein Schild weist von der Zufahrtsstraße zum Dorf aus den Weg. Ich suche und suche, dann wird mir klar, dass die vier oder fünf Steine mit dem Stacheldraht die Gedenkstätte sein sollen. Etwas mickrig, aber immerhin.

Tage später ist das Hinweisschild mit einem blauen Plastiksack verhüllt. Warum kann mir niemand sagen. Nicht zum ersten Mal stelle ich fest, dass der Bürgermeister wohl nicht mit seinem E-Mail-Programm umgehen kann.

Irgendwann ist der Plastiksack wieder verschwunden. Vom Winde verweht …

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