Weihnachten 1995 verbrachte ich in einer Klinik am Chiemsee. Es war keine Frage, dass die Liebste mich über die Feiertage besuchen würde und wir hatten schon Wochen zuvor ein Zimmer in einer Pension gebucht. Die Deutsche Bahn schien allerdings entschlossen, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Fahrpläne rund um die Festtage erwiesen sich mit der Zeitplanung der Liebsten und den Ansprüchen ihres Arbeitgebers als kaum kompatibel. Letztendlich traf sie morgens um drei Uhr ein und verbrachte die nächsten vier Stunden auf einem eiskalten Bahnhof, bis die Pension endlich ihre Tür öffnete.
»Ich schreibe ein Buch über die Liebe«, schrieb mir letztes Jahr eine Journalistin. »Da ich auch einen lesbischen Aspekt dabei haben will, würde ich gerne ein Interview mit Ihnen machen.«
Es war nicht die erste Anfrage dieser Art. Seit der Kolumne »Herzlichen Glückwunsch« scheine ich in Heterokreisen als Expertin für lesbische Beziehungen zu gelten, denn bei der entsprechenden google Suche taucht meine Rede anlässlich der Hochzeit eines befreundeten Paares recht weit oben auf. Trotzdem habe ich erst einmal nachgefragt, weshalb sie ausgerechnet mich für ihr Projekt ausgesucht hat und erhielt die Antwort: »Weil Sie so schön über die Liebe schreiben.«
Das ging natürlich runter wie Öl und ich musste nicht lange überredet werden, entsprechende Fragen zu beantworten. Wie vereinbart wurde der Text anonymisiert, weshalb ich der Autorin auch eine gewisse künstlerische Freiheit lassen konnte. So endet das entsprechende Kapitel mit den Sätzen: »Mein Vertrauen in sie ist unerschütterlich. Ich weiß: Wenn ich mir am Nordpol ein Bein brechen würde, würde sie alles tun, um zu mir zu kommen. Bei einem Mann wäre ich mir da nicht so sicher. Der würde vielleicht sagen: ‚Ach, da fährt gerade kein Zug hin‘.«
Der Teil mit dem Mann stammt nicht von mir. Ich habe keine Ahnung, wie »die Männer« reagieren würden. Ebenso wenig weiß ich, wie andere Frauen sich in einem solchen Fall verhalten würden. Hier ging es einzig und allein um meine Frau und unsere Beziehung. Die Liebste hatte mir bereits in dem ersten Jahr unserer Beziehung bewiesen, was sie bereit war, meinetwegen auf sich zu nehmen. Auch wenn sie damals nur bis zum Chiemsee fahren musste, dort war es in jener Nacht beinah so kalt wie am Nordpol gewesen.
»Wir haben uns eben im reiferen Alter kennengelernt«, pflegt die Liebste zu erklären, wenn wir auf unsere Beziehung angesprochen werden. »Da weiß man dann schon, dass man einen anderen Menschen nicht mehr umerziehen kann, sondern nehmen muss, wie er ist.«
Wenn ich sehe, wie in unserem Umfeld Beziehungen immer wieder in die Brüche gehen und besonders eine lesbische Liebe selten länger als zwei oder drei Jahre zu dauern scheint, bezweifle ich ihre Sicherheit, dass Menschen ab einem gewissen Alter bereit sind, die Macken ihrer Partner_innen klaglos hinzunehmen.
Die erste große Bewährungsprobe in unserer Beziehung wurde von einer Katze ausgelöst. Laut miauend brachte der Kater am frühen Morgen eine Maus von seinem nächtlichen Streifzug mit und legte sie uns ins Bett. Das kleine Tier lebte noch, ergriff die Flucht und versteckte sich unter dem Schrank. Die Liebste war unerfahren im Umgang mit Katzen und nicht daran gewöhnt, auf diese Weise geweckt zu werden. Leicht panisch sprang sie mit einem Satz aus dem Bett und hätte später am liebsten alles, angefangen bei der Bettwäsche bis hin zum Kater, mit Desinfektionsmittel abgeschrubbt.
Bei der Renovierung der ersten gemeinsamen Wohnung dachten wir beide noch einmal kurz darüber danach, ob das mit der Beziehung wirklich eine so gute Idee gewesen war. Wir waren unfähig, zusammenzuarbeiten. Sie bekam Zuckungen, während sie mich beim Streichen beobachtete und ich fand ihre Pingeligkeit unerträglich. Was machte es denn aus, ob die Farbe auf den Boden kleckste? Wozu hatten wir denn die Plastikfolie ausgelegt?
»Willst du nicht dieses Messer nehmen?« – »Pass auf, das brennt gleich an.« – »Ich würde das eher so machen.« Auch die Küche erwies sich schnell als eine Zone, die wir niemals gemeinsam betreten dürfen. Entweder kocht sie oder ich oder wir lassen uns scheiden.
Es war unendlich schwierig gewesen, bis wir endlich begriffen hatten: Beziehung bedeutet nicht, Dinge des Alltags gemeinsam zu machen – so praktisch das manchmal vielleicht wäre. Im Fernsehen mag es nett aussehen, wenn zwei Leute zusammen kochen, bei uns war es eben anders.
Danach kam die Phase, wo wir unsere Absprache vor anderen rechtfertigen mussten. Ich saß gemeinsam mit unseren Gästen am Tisch, trank Wein und wir plauderten gemütlich, während die Liebste mit hochrotem Kopf in der Küche stand.
»Willst du deiner Frau nicht mal helfen?« fragte eine Bekannte und sah mich missbilligend an. Meine schlichte Antwort »Nein« entsetzte sie und schnell hatten wir uns beide den Ruf eingefangen, »unmöglich drauf zu sein«. Erst nachdem ich angefangen hatte, ab und zu darüber zu schreiben und so manche Anekdote in meine Bücher einzubauen, reagiert unser Umfeld gelassener auf das »faule Herumsitzen«.
»Gläserne Hochzeit« wird das fünfzehnjährige Jubiläum auch genannt. Nicht wegen der Scherben, wie so manche glauben, sondern weil man nach so vielen Jahren die Partnerin in- und auswendig kennen und keine Geheimnisse mehr voreinander haben soll. Für mich hört sich das ganz schön langweilig an, dennoch trifft das auch ein wenig auf uns zu.
In den letzten fünfzehn Jahren habe ich gelernt, dass für die Liebste die Farbe blau nicht gleich blau ist und es viele Stunden dauern kann, bis mit »ein Prozent mehr rot und drei Prozent weniger schwarz« oder so ähnlich endlich das einzig wahre Blau gefunden worden ist – bei dem ich kaum einen Unterschied zum Ursprung erkennen kann. Und sie zweifelt nicht mehr an meiner Liebe, wenn ich tagelang am Schreiben bin, mir kaum ein »Guten Morgen« abringen kann und manchmal nicht zu wissen scheine, wer die Frau da ist, mit der ich zusammenwohne. So gesehen sind wir ganz optimistisch, in zehn Jahren unsere »Silberhochzeit« zu feiern.