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Schlechtes Benehmen

Eine Amerikanerin hat einmal geschrieben, sie habe in den letzten zwanzig Jahren stets Diät gehalten und dabei 700 Pfund abgenommen. Ein Satz, der von mir stammen könnte. Weiter ließ sie sich über den Begriff „eine Größe für alle“ aus und forderte die Modeindustrie auf, endlich mal etwas zu erfinden, das „alle Größen für eine“ heißt.

Auch dieser Forderung hätte ich mich bis vor kurzem angeschlossen. Heute weiß ich aber, dass mein Leiden bald ein Ende haben könnte. In einigen Monaten überschreite ich eine Grenze und werde zu „reifen Frau“ wie mir meine Liebste aus dem Buch „Einmaleins des guten Tons“ vorgelesen hat.

Als reife Frau muss ich mir keine Gedanken mehr um meine Figur oder Kleidung machen. Verräterische Pölsterchen an Taille und Hüfte gehören dazu, leicht zu verstecken unter nicht zu kurzen Kleidern mit Dreiviertelschößchen, was immer das auch sein mag. Gediegene, Form haltende Stoffe in dezenten Farben werden mir zum richtigen Aussehen verhelfen. Hilfreiche Kragengarnituren, weichfallende lange Ärmel und kleine Anstecksträußchen sollen von den Falten in meinem Gesicht ablenken. Die Haare stets gepflegt, gekrönt mit einem zeitlosen Hut, das Gesicht dezent gepudert, und auch als reife Dame darf ich in den ersten Jahren gelegentlich noch etwas Lippenrot verwenden.

An diesen Punkt angelangt, warf meine Liebste das Buch in die Ecke und drohte mir: „Wenn Du auch nur einen dieser Ratschläge in die Tat umsetzt, verlasse ich Dich!“

Schade aber auch, also muss ich weiter nach einem Modeschöpfer suchen, der bereit ist, für jedes Körperteil eine andere Größe anzufertigen und diese Teile dann zu einem einzigen Kleidungsstück zusammenzunähen.

Ich holte das Buch wieder aus der Ecke und stellte fest, dass ich auch schon jetzt – als noch nicht so reife Frau – keineswegs korrekt gekleidet bin. Meine Liebste übrigens auch nicht. Denn auch zu Hause trägt frau keine abgeschnittene Leggins mit Farbflecken und Hemdchen mit Spaghettiträgern (ich) oder Frotteeshorts und ein gefärbtes Unterhemd (meine Liebste). Nein, ein hübsches Hauskleid und eine adrette Frisur sind vorgeschriebenes Mindestmass schon im Kapitel „Allein mit sich selbst“.

Das Kapitel „Allein mit der Liebsten“ habe ich nicht gefunden, dafür aber den Hinweis im Kapitel „Der gute Geschmack“, dass ich mit meinen doch etwas recht molligen Beinen eh keine Hosen tragen darf und kurze Hosen schon gleich zweimal nicht, ebenso wenig wie Stoffe in weiß oder mit großen Blumenmuster, großen Karos oder Querstreifen.

Denn es gilt die Devise: auch hässliche Frauen haben Erfolg, wenn sie charmant sind und mit Selbstzucht und guten Willen aus ihren von der Natur stiefmütterlich bedachten Körper etwas zu machen vermögen. Dazu gehören außer der richtigen Kleidung aber auch der anmutige Gang und die edle Körperhaltung.

„Was ist denn ein anmutiger Gang?“ fragte meine Liebste und nahm mir das Buch wieder aus der Hand. Die dazugehörigen Zeichnungen zeigten klipp und klar, dass sie weder besonders anmutig daher schritt noch bei ihr von einer edlen Körperhaltung die Rede sein konnte. So wandte sie sich den Abschnitten Sitzen, Zwangloses Stehen und Wohin mit den Händen? zu. Doch auch dabei machen wir so ziemlich alles falsch.

Das Kapitel Sauberkeit munterte uns wieder ein wenig auf. Wenigstens hier erfüllen wir teilweise die Ansprüche, denn wir waschen uns täglich.

Bloß bei den weitergehenden Pflegemaßnahmen wie den hundert Bürstenstrichen morgens und abends hapert es gewaltig. Und beim Make-up sind wir beide komplette Versagerinnen. Da Frigitte nicht zu unserer bevorzugten Lektüre gehört, konnten wir ja nicht wissen, dass ein herbes und farbloses Gesicht durch dezentes Make-up in erstaunlicher Weise verwandelt werden kann und eine Persönlichkeit zum Vorschein bringt, die ausgesprochen weiblichen Charme ausstrahlt.

Dieses auf knapp 500 Seiten kleingedruckte Werk ist in den letzten Tagen zu unserem ständigen Begleiter geworden. Ich muss es offen gestehen, meine Liebste und ich sind gesellschaftliche Nieten ohne eine Spur von Manieren. Kein Wunder, dass uns manche Menschen meiden. Wir können uns ja noch nicht mal richtig vorstellen, geschweige denn andere. Allein dieses Kapitel umfasst vier Seiten und unterscheidet zwischen Gästen, Familienkreis und Beruf mit Fallbeispielen: die alte Frau Y, ihr Sohn und Ehepaar Z, hinzu kommt der alte Herr X mit seiner unverheirateten Tochter. Weder meine Liebste noch ich wussten, dass zuerst Herr X begrüßt wird, der dann seine Tochter vorstellt, während Frau Y und Frau Z sitzen bleiben, der Sohn von Frau X und Herr Z aber aufstehen

 

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