„Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam“, heißt ein Buch von Reinhard Mohr (* 1955), das 1992 erschienen ist. Es handelt von meiner Generation, von einer Generation, die immer und überall zu spät zu kommen schien: „Sie ist unübersehbar, aber man kennt sie nicht: die Generation der zwischen 1953 und 1959 geborenen. In der öffentlichen Meinung sind die merkwürdig profillos geblieben. Und doch hat sie einen eigenen Charakter. Auch wenn der Zeitgeist die Generation der 78er behandelt, als sei sie durch den Rost der Geschichte gefallen – im Jahr 2000 wird sie die Geschicke der Bundesrepublik mitgestalten.”
1992, das war noch die Vorinternetzeit und der Zugang zu Informationen mit heute nicht mehr vergleichbar. Diese Tatsache kann ich gar nicht oft genug betonen. Reinhard Mohr kannte ich als Autor des PflasterStrands und der TAZ, also gehörte er in meiner damaligen Welt zu den „Guten“. Wahrscheinlich habe ich das Buch auch deshalb gekauft, einmal abgesehen davon, dass mich als „Betroffene“ natürlich auch das Thema interessierte.
Sein Generationenbegriff war mir ein bisschen zu knapp gefasst, ich verstand (und verstehe immer noch) darunter eine ganze Dekade, die Jahrgänge von 1953 bis 1962. Auch seine Prognose, 2000 beginne „unsere Zeit“, hielt ich für zu früh. Zu jener Zeit glaubten Kinder schließlich, Helmut Kohl sei ein Synonym für Bundeskanzler, und nach ihm würden erst mal die Fischers und Schröders an der Reihe sein. Ab und zu dachte ich beim Lesen auch: „Nein, das habe ich als Frau anders erlebt.“, doch im Großen und Ganzen fühlte ich mich und meine Zeit, uns Kinder aus der Mittelschicht, die in den 60ern und 70ern aufs Gymnasium gingen, bestens beschrieben. Seine Anekdote über den Anfang unseres politischen Bewusstseins, als wir uns verbotenerweise zu den „Großen“ in die Rauchecke auf dem Schulhof gesellten, fand genauso auch an meiner Schule statt.
Über zwanzig Jahre nach Erscheinen des Buches zählt Reinhard Mohr heute für mich nicht mehr zu Guten. Im Laufe der Jahre verschwand er aus meinem Blickfeld, er wurde uninteressant und lange Zeit fiel er mir überhaupt nicht mehr auf. Stattdessen erweiterte das Internet meinen Horizont. Ohne es zunächst selbst zu bemerken, ordnete ich allmählich Erinnerungen und Erlebnisse anders ein. Natürlich hatte ich es immer schon geahnt und manchmal auch in einem Buch oder in einem EMMA Artikel etwas dazu gelesen, aber erst jetzt ist mir wirklich klar, wie normal meine manchmal so chaotischen und wirren und wütenden Gedanken und Gefühle waren. Unglaublich vielen Frauen geht bzw. ging es ähnlich wie mir und im Gegensatz zu früher kann diffuses Unbehagen jetzt in der Öffentlichkeit zum Thema gemacht werden.
Irgendwann kam ich in die Wechseljahre und fing an, mir Gedanken über mein Alter zu machen, während Männer meiner Generation als junge Väter durch die Medien geistern. Und plötzlich tauchte auch wieder der Name Reinhard Mohr auf. Allerdings nicht als junger Vater, sondern als gepeinigter Mann und voll beschäftigt mit der Pflege seines Zaungästetraumas. 1992 hatte er in seinem Buch darüber gejammert, dass die 68er alle Arbeit erledigt und für uns 78er politisch nichts übrig gelassen hätten. Seine ganze Hoffnung richtete sich auf die Zeit, bis sein männlich gedachtes „wir“ endlich an die Macht käme. Also jetzt. Heute.
Was er in der Zwischenzeit getrieben hat, ist mir glücklicherweise entgangen. Auf jeden Fall hat er eine Entwicklung verpasst und ist im Gegensatz zu seinen Erwartungen nicht so einflussreich und mächtig geworden wie damals Helmut Kohl gewesen war. Stattdessen sieht er gemeinsam mit seinen Kumpels aus dieser Generation alle Felle davon schwimmen. Es ist wohl Zeit für ein neues Buch: „Zaungäste. Wir 78er Männer. Seit unserer Jugend von der Gesellschaft vernachlässigt.“ Vielleicht lassen sich ja Jürgen Elsässer (*1957), Matthias Matussek (*1954) und Harald Martenstein (*1953) als Co-Autoren gewinnen.