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Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da

Edith Devries

»Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da. Eine jüdische Kindheit zwischen Niederrhein und Theresienstadt«

Zusammengetragen und kommentiert von Ruth Bader

ISBN 978-3-8370-6081

Wäre ich nicht direkt mit der Nase darauf gestoßen worden, hätte ich »Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da« sicher nicht gekauft. Zum einen, weil ich wahrscheinlich nicht einmal erfahren hätte, dass es dieses Buch überhaupt gibt. Denn handelt sich um ein BoD Erzeugnis und diese liegen in der Regel weder im Schaufenster eines Buchladens oder noch werden sie von einem der Onlinebuchhändler beworben. Zum anderen, weil ich eigentlich glaubte, mein persönlicher Bedarf an derartiger Lektüre sei nun wirklich gedeckt. Jahrelang habe ich alles gelesen, was mir zu diesem Thema in die Finger kam. Begonnen bei dem Tagebuch von Anne Frank über den »SS Staat« von Eugen Kogon und Lea Fleischmanns »Dies ist nicht mein Land« bis zu Daniel Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker«. Ich habe in den siebziger Jahren den Fernsehfilm Holocaust gesehen, in den Neunzigern natürlich Schindlers Liste und mich jahrelang durch die eigene Familiengeschichte gequält. Irgendwann dachte ich: »Jetzt ist Schluss damit. Ich weiß mehr als genug über diese Zeit. Mir kann niemand mehr etwas wirklich Neues darüber erzählen.«
Vor einigen Wochen habe ich in einem Forum von Edith Devries Buch erfahren und es bestellt. Ganz ehrlich, ausschlaggebend war weniger ein wirkliches Interesse an diesem Buch, sondern mehr ein Gefühl der Solidarität. Eine deutsche Jüdin des Jahrgangs 1935, die ihre eigene Geschichte erzählen will und all die Mühen auf sich nimmt, diese als Buch ohne »richtigen« Verlag im Rücken unter die Leute zu bringen, hat es verdient, dass man sie zur Kenntnis nimmt – auch wenn man wie ich solche Sachen eigentlich nicht mehr lesen will.

Als das Buch kam, wollte ich es gleich auf den großen Stapel der ungelesenen Bücher »für irgendwann mal« legen. Doch die Liebste meinte: »Gib mal her. Ich weiß eigentlich kaum was über Theresienstadt.«

Ich musste zugegeben, dass es mir kaum anders ging. Ich wusste lediglich, es war ein »Vorzeigekonzentrationslager« gewesen, und ich konnte mich schwach an eine Szene des oben erwähnten Fernsehfilms Holocaust erinnern. Als eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes zur Besichtigung kommt, stellt eine der Gefangenen die Frage: »Weshalb wollen die eigentlich die Zustände hier überprüfen? Weshalb fragt denn niemand danach, mit welchem Recht wir hier eingesperrt sind?«

Als ich mitten in der Nacht aufwachte, brannte zu meinem Erstaunen die Nachttischlampe der Liebsten und sie las. Für mich ein sehr seltener Anblick, denn normalerweise schläft sie selbst beim spannendsten Krimi nach spätestens zehn Minuten ein. Bis zum Weckerklingeln hatte sie immer noch nicht geschlafen, dafür aber das Buch fertig gelesen.

»Wie ist es denn?« wollte ich wissen und sie monierte zunächst einmal das Layout und Dinge, die vielen anderen, mich eingeschlossen, überhaupt nicht auffallen würden. Aber als Druckvorstufenfrau für Digitaldruck kann sie einfach nicht anders. Dann meinte sie, die vielen Namen von Tanten, Onkel und sonstiger Verwandtschaft seien ein wenig verwirrend gewesen … und hatte Tränen in den Augen. »Ich finde es wunderschön, dass all diese Leute mit Namen genannt wurden. Durch das Buch sind sie keine Nummern auf den Totenlisten geblieben.«

Als ich einige Tage später das Buch ebenfalls gelesen hatte, musste ich der Liebsten recht geben. Die vielen Namen sind manchmal leicht verwirrend, bei vielen AutorInnen wäre es vielleicht bei Sammelbegriffen geblieben … drei Cousins und fünf Cousinen … namenlose Aufzählungen …

Nein, Verwirrung hin oder her, Edith Devries hat aus ihren Angehörigen (und anderen) wieder reale Personen, Menschen aus Fleisch und Blut gemacht und damit auch gezeigt, dass das Zusammenleben zwischen den Angehörigen der christlichen und der jüdischen Religion einst selbstverständlicher Alltag in Deutschland gewesen war. Sie waren Nachbarn, gingen zusammen in die Schule und in den Kindergarten. Die einen fand man nett, die anderen konnte man nicht ausstehen – fertig. Dass Mischehen in vielen Gegenden nicht gern gesehen waren, beschränkte sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Juden und Christen. Das betraf auch meine Großeltern, die als Katholik und Protestantin nur unter widrigen Umständen heiraten konnten.

Dann, wie aus heiterem Himmel änderte sich das praktisch über Nacht. Da mögen die Historiker, Psychologen, Soziologen noch so viele Erklärungen anbieten: Ich verstehe heute ebenso wenig wie damals die kleine Edith, weshalb sie plötzlich einen Stern tragen musste und nicht mehr in den Kindergarten gehen durfte. Weshalb ihrer Mutter mitgeteilt wurde, jüdische Kinder dürften keine Südfrüchte essen. Und mir scheint, dass viele der EinwohnerInnen des kleinen Ortes Weeze am Niederrhein es ebenfalls nicht verstanden haben und regelrecht schizophren darauf reagierten. Zumindest ist das der Schluss, den ich aus Edith Devries Erinnerungen an die Zeit vor Theresienstadt ziehe.

Sie berichtet davon, wie die Hitlerjugend das Lied »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt« grölend durch den Ort zog … und sich direkt im Anschluss daran von ihrem Vater, einem Schwerversehrten aus dem Ersten Weltkrieg, Kriegsgeschichten erzählen ließ. Wenn sie den Bürgermeister erwähnt, der weinend der Familie den Transportbefehl nach Theresienstadt überbrachte, oder den Polizisten, der sie unter einem Vorwand dabei ein Stück begleitet … um sie letztlich doch ihrem Schicksal zu überlassen.

Die Jahre in Theresienstadt beschreibt die Autorin aus der Sicht eines Kindes und versucht dabei, späteres Wissen und Erwachsenerkenntnisse außen vorzulassen. Gerade deshalb ist dieser Abschnitt des Buches auch nur schwer zu verkraften und ich habe ihn entgegen meiner sonstigen Gewohnheit in Etappen gelesen.

Die Familie hatte Glück, wenn das der richtige Begriff dafür sein sollte. Edith wurde nicht von ihrer Mutter getrennt, der Vater war in Reichweite, sie blieben bis zur Befreiung in Theresienstadt und wurden nicht wie so viele andere nach Ausschwitz und andere Vernichtungslager weitergeschickt.

Im September 1945 kommt Edith mit ihren Eltern nach Weeze zurück. Sie denken nicht an eine Auswanderung, sondern wollen in Deutschland oder genauer in Weeze bleiben. Edith holt versäumte Schuljahre nach, macht eine Ausbildung als Kindergärtnerin, verliebt sich, heiratet später einen anderen, bekommt vier Kinder … es könnte sich wie ein ganz normales Leben anhören, wäre da nicht die Vergangenheit.

Irgendwann begann sie, als Zeitzeugin in Schulen zu gehen und von ihrer Kindheit zu erzählen. Und hat dieses Buch geschrieben, das mir zeigt: Ich wusste – und weiß immer noch – nicht alles Wichtige aus dieser Zeit, um arrogant sagen zu können: »Solche Sachen lese ich nicht mehr.«

Bücher wie dieses von Edith Devries, die aus verschiedenen Perspektiven von dem ganz normalen Alltag im Dritten Reich und seinem Wahnsinn berichten, sind wichtiger denn je. Auch wenn sie oft von Laien geschrieben werden und dementsprechend gelegentlich mal ein wenig holprig wirken. Daran sollte sich niemand stören. Die Generationen, die jene Zeit miterlebt haben, sterben langsam aus und in paar Jahren wären wir ausschließlich auf die Erkenntnisse und Theorien der Historiker angewiesen, um das Grauen zu verstehen … oder um zu verstehen, dass wir nichts verstehen … Ich begreife nach diesem Buch weniger denn je, wie das alles passieren konnte. Und da ich keine Erklärung finde, ziehe ich für mich den Schluss: »Wehret den Anfängen! Lasst Neonazis, Antisemiten, Rassisten, aber auch Verniedlichern und Verdrängern kein bisschen Luft zum Atmen.« Nur so können wir eine Neuauflage dieser Zeiten verhindern und dafür brauchen wir diese Erinnerungen.

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