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Eine ganz persönliche Seifenoper

Langjährige Seifenopern leben auch von dem gelegentlichen Austausch der Darstellerinnen und Darsteller. Sinkt die Einschaltquote und sollen neue Gesichter frischen Schwung in die Geschichte bringen, greifen DrehbuchautorInnen häufig zu einem probaten Mittel: Sie lassen tot geglaubte oder gänzlich unbekannte Verwandte der Serienfiguren auftauchen. Da erscheint der uneheliche Sohn des sonst so biederen Hauptdarstellers oder der im Zweiten Weltkrieg verschollene Bruder plötzlich höchst lebendig aus dem Nichts auf und sorgen für neue Handlungsstränge mit Irrungen und Wirrungen.

»Was für ein Blödsinn«, denkt frau mitweilen und beschließt vielleicht sogar, sich diesen Quatsch nun wirklich nicht mehr länger anzusehen. Der Liebsten und mir erging es vor einigen Jahren so mit den »Fallers«, einer Serie über eine Bauernfamilie aus dem Schwarzwald.

»Denen fällt auch wirklich nichts mehr Neues ein«, sagten wir uns, als nach dem unehelichen Sohn aus Polen plötzlich auch noch ein Bruder aus Kanada dem idyllischen Bauernhof mehrere Folgen lang einen Besuch abstattete.

Vor ungefähr einem halben Jahr beobachtete eine meiner Cousinen durch ihr Küchenfenster eine Frau, die langsam am Gartenzaun hin- und herging, immer wieder das Klingelschild betrachtete und prüfende Blicke auf die Fenster warf. Schließlich ging Gerti[1] nach draußen und fragte die Frau, ob sie ihr helfen könnte? Ob sie jemanden suche?

»Drucks … äh … ja, ich suche Frau Gisela Müller«, lautete die Antwort.

»Das war meine Mutter«, sagte Cousine Gerti. »Aber sie ist bereits vor einigen Jahren gestorben.«

Die Frau zögerte. Dann meinte sie: »Eigentlich suche ich ja Franz Meier.«

»Senior oder Junior?«, wollte Gerti wissen und fügte gleich hinzu: »Davon gab es nämlich zwei. Aber Senior ist bereits seit über dreißig Jahren tot und der Junior mittlerweile auch schon fast achtzig Jahre alt.«

»Ich suche eigentlich den Senior«, erklärte die Frau. »Ich weiß allerdings, dass er schon lange nicht mehr lebt … ähm … drucks … ähm … er war mein Großvater.«

Bevor Gerti dazu noch etwas sagen konnte, zückte die Fremde, die da behauptete, mit uns verwandt zu sein, zum Beweis einen Stapel Papier.

Im Gegensatz zu mir ist meine Cousine das, was allgemein als gutbürgerlich und gut erzogen bezeichnet wird. Sie brüllte nicht los vor Lachen, wie ich es wohl getan hätte, sondern bat die Frau umgehend ins Haus – zunächst nicht etwa, um die neue Verwandtschaft willkommen zu heißen, sondern wegen der Nachbarn.

»So etwas kann man doch nicht auf der Straße besprechen«, erklärte sie mir später im Brustton der Überzeugung.

Stimmt, uneheliche Kinder bzw. Enkelkinder, die nach über sechzig Jahren aus heiterem Himmel auftauchen, eignen sich nun wirklich nicht als Gesprächsstoff für die Nachbarschaft. Was soll die denn über den Verursacher denken? Schließlich liegt der bereits seit mehr als 30 Jahren als ehrbarer Mann auf dem Friedhof und erleidet bestimmt Höllenqualen, wenn er nun als Schwerenöter enttarnt wird.

Wie bei der Serie »Die Fallers«, die die Liebste und ich wegen der an den Haaren herbeigezogenen Handlung nicht mehr sehen wollten, hat auch unser überraschender Familienzuwachs mit deutscher Geschichte, Krieg und Flucht zu tun. In Schlesien verliebte sich jener Franz Meier Senior in eine junge Frau und zeugte mit ihr ein Kind.

Problematisch, denn er war verheiratet und hatte bereits vier Kinder. Im Januar 1945 floh die Familie vor der anrückenden russischen Armee in Richtung Westen. Was aus der jungen Frau und ihrem Kind geworden war, wusste keiner. Wollte vielleicht auch niemand wissen. Offen darüber geredet wurde jedenfalls nie. Doch die Gerüchteküche kochte immer mal wieder auf und wir Nachgeborenen kannten alle verschiedene Versionen der Geschichte über die angebliche Existenz eines unehelichen Kindes unseres Großvaters. Von einem Sohn war da stets hinter vorgehaltener Hand die Rede gewesen.

Heute wissen wir: Die junge Frau blieb in Schlesien und kam erst Anfang der Achtziger Jahre in die Bundesrepublik. Da war sie natürlich nicht mehr ganz so jung und auch das Kind längst erwachsen und hatte bereits eigene Kinder. Die einstige Liebe war in Hass umgeschlagen, denn immer wenn das Kind nach seinem Vater fragte, erhielt es keine Antwort. Nur dass es seine schlechte Eigenschaften und Verhaltensweisen samt und sonders von dem ihm unbekannten Erzeuger geerbt haben sollte, bekam es häufig zu hören. Sie habe denselben bösen Blick wie er, wurde ihr als Kind ständig vorgeworfen.

Ihr, denn entgegen der Familienfama handelt es sich nicht um einen Sohn, sondern um eine Tochter. Mit ihrem Mann und ihren Kindern zog sie ins Ruhrgebiet und erst als ihre Mutter im hohen Alter starb, fand sie endlich die Papiere, die Auskunft über ihre Abstammung gaben. Dennoch machte sie sich nicht selbst auf die Suche nach diesem Teil ihrer Familie. Dazu fehlte ihr der Mut und sie hatte große Angst vor Ablehnung. Schließlich nahm letztes Jahr ihre Tochter die Sache in die Hand … und landete nach Monaten mit vielen falschen Spuren vor dem Haus meiner und ihrer Cousine.

Franz Meier Junior, der bei der Flucht aus Schlesien gerade 13 Jahre alt gewesen war und von der Existenz einer weiteren Schwester keine Ahnung gehabt hatte, verschlug es erst einmal die Sprache. Zwei seiner Schwestern sind bereits verstorben, die Dritte lebt seit Jahren in einem Heim. Und nun eine vierte Schwester, die vom Vater nicht nur den bösen Blick, sondern auch die Migräne geerbt hatte und wie er als Kind und Jugendliche Geige spielte. Die ihren anderen Schwestern unglaublich ähnlich sieht und es kaum fassen kann, im Alter von 65 Jahren endlich den väterlichen Teil ihrer Familie kennenzulernen.

Tja, die Liebste und ich leisten Abbitte an alle DrehbuchautorInnen und werden nie mehr sagen: »Was für ein Unsinn.« Sollte demnächst bei den »Fallers« ein UFO im Garten landen, werden wir, ohne mit der Wimper zu zucken, die Serie weiter einschalten und uns ebenfalls auf ein Treffen mit Außerirdischen vorbereiten.

[1] Die Namen sind natürlich alle geändert

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