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Das Staunen über Missbrauch und Misshandlung

Missbrauch und Misshandlungen von Kindern sind in den letzten Wochen zu einem wichtigen Thema geworden. Sämtliche Medien berichten darüber und geben unisono Entsetzensschreie von sich. Ich selbst beobachte diese Diskussion mit einer gewissen Irritation und frage mich, wo diese Leute eigentlich in den letzten Jahrzehnten gelebt haben?

Okay, es gibt es jetzt ein paar Fakten und es werden Namen genannt, aber bitte schön, was ist daran neu? Was war bisher tatsächlich nicht bekannt? Andersherum stimmt es doch eher: Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat man es einfach nicht wissen wollen. Es wurde weggesehen und verdrängt und durfte nicht wahr sein, was nicht wahr sein konnte.

Ich kann mich noch gut an einen angeheirateten Onkel erinnern, der in meiner Kindheit plötzlich von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche verschwunden war. Viele Jahre später schnappte ich mal die Bemerkung auf: »Er hat jungen Mädchen unter den Rock gefasst.«

Davon abgesehen hat dieser Mann anscheinend ebenso wenig existiert … wie auch der angesehene, politisch engagierte Nachbar nie etwas getan hat – außer junge Frauen sexuell zu belästigen. Bei seiner Beerdigung jedenfalls war die Trauerhalle überfüllt und die Honoratioren saßen Stuhl an Stuhl.

Im Nachrichtenmagazin Fakt kam letzten Montag ein Bericht von drei Frauen etwa meines Alters, die in einem Kinderheim von Nonnen misshandelt wurden. Ich habe zufällig in die Sendung gezappt und nur kurz zugehört. Anscheinend sollte wieder mal bewiesen werden, wie schrecklich verdorben es in Einrichtungen der katholischen Kirche zuging.

Mich hatte man Ende der Fünfziger Jahre ein privates schweineteures Kinderheim in den Schwarzwald geschickt, weil ich angeblich von der schlechten Frankfurter Luft krank geworden war. Ich kann mich nicht daran erinnern, in diesem Heim je eine Nonne oder einen Pfarrer gesehen zu haben. Wenn wir den »Tanten« nicht gehorchten, wurden wir brutal verprügelt. Wollten wir den ekelerregenden Haferschleim zum Frühstück nicht essen, hielt man uns die Nase zu, bis uns nichts anderes übrig blieb, als zu schlucken.

Aus diesem Heim befreit hat mich damals übrigens meine Oma bei einem Überraschungsbesuch. Aber nicht wegen der zweifelhaften Pädagogik, sondern weil meine Schuhe nicht geputzt waren – was in der damaligen Zeit mit Sicherheit das eindeutigere Verbrechen war.

Das mit der »Nase zu halten« erlebte ich dann Mitte der Siebziger Jahre wieder. Es war in der Behinderteneinrichtung, in der ich damals arbeitete, noch übliche Praxis. Und Gerüchte, dass Betreuer sich an Behinderten sexuell vergingen, machten immer mal die Runde.

In meinem Freundinnenkreis gibt es keine Frau, die nicht wenigstens zwei, drei, vier Geschichten zu diesem Thema beitragen kann. Entweder am eigenen Leib erfahren oder im Umfeld beobachtet. Jede kann sich an einen Onkel erinnern, der ein wenig »merkwürdig« war oder einen Lehrer oder eine Erzieherin, die eine lockere Hand hatten, wie man das früher nannte.

Dass sexueller Missbrauch auch in Einrichtungen wie zum Beispiel der Odenwaldschule vorgekommen ist, können doch z. B. gerade die sogenannten Alt-Achtundsechziger mit ihren Bemühungen um eine andere Pädagogik nicht überraschen. In wessen Bücherschrank stand denn nicht wenigstens ein Buch von Wilhelm Reich oder einem seiner Anhänger? Und wer von ihnen hat nicht wenigstens einen entfernten Bekannten, der daraus den Schluss zog: „Bei Kindern die Sexualität zu erwecken“, sei ein Bestandteil moderner Erziehung?

Es ist gut, dass diese Geschichten endlich in der breiten Öffentlichkeit für Diskussionen sorgen. Aber sie sind kein ausschließliches Problem der katholischen Kirche. Man soll bitte nicht so tun, als wäre das alles bisher nicht bekannt gewesen und dabei vergessen, welcher Zeitgeist in den Fünfziger, Sechziger Jahren in Deutschland herrschte – da reicht schon ein Blick in Mädchenbücher wie Katrinchen-Schlampinchen.

 

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