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Depressionen und der verlogene Medienrummel

Deutschland hat eine neue Krankheit entdeckt. Nach dem Selbstmord eines Torhüters interessiert sich kaum noch jemand für die Schweinegrippe und ihre möglichen Opfer. Nein, stattdessen ist die Depression in aller Munde und auf jedem Titelblatt. Von der Bundeskanzlerin bis zu dem allseits bekannten kleinen Mann auf der Straße hat sich inzwischen die ganze Nation eine dezidierte Meinung dazu gebildet. Dank des angeblich so informativen Medienrummels weiß man nun vom Bodensee bis Flensburg bestens über diese Krankheit Bescheid und darf jetzt endlich unter dem Deckmantel der Fürsorglichkeit ungestraft und hemmungslos darüber spekulieren, welcher Nachbar und welche Arbeitskollegin eigentlich ein Fall für die Klapsmühle wären.

Meine google Alerts zum Begriff Homosexualität erreichten in den letzten Tagen Trefferzahlen wie noch nie: Im Fußball sind Homosexualität und Depression derzeit die angesagten Geschichten, diese beiden Begriffe scheinen beliebig austauschbar und gleichzeitig eng miteinander verbunden. Bei mancher der Bemerkungen beschlich mich der Verdacht, hier wartet man gespannt auf den Selbstmord eines schwulen Fußballers, um das Thema weiter am Kochen halten zu können. Würde doch ein solcher Suizid wunderbar in die momentane allgemeine Nachrichtenlage passen … mit dem schwulen Außenminister und all den anderen Homosexuellen, die derzeit angeblich zur Macht streben.

Die Todesnachricht auf dem roten Laufband eines Nachrichtensenders habe ich nur am Rande wahrgenommen. Der Name Robert Enke sagte mir nichts, mein Interesse am Fußball hält sich in Grenzen.  Richtig aufmerksam wurde ich erst am nächsten Tag, als Teresa Enke gemeinsam mit dem Psychiater vor der Presse trat und schier Unglaubliches verkündete: »Mein Mann war seit Jahren depressiv gewesen.«

Ungläubiges Staunen und danach blitzschnell selbstanklagende Tiraden in Fernsehen, Printmedien und Blogs: »Was sind wir nur für eine schreckliche Gesellschaft, wenn ein Mensch bei uns nicht zugeben darf, dass er krank ist?«

Von wenigen Ausnahmen abgesehen übersah man dabei geflissentlich, dass sich vor einiger Zeit bereits ein depressiver Fußballspieler geoutet hatte. Allerdings hatte er den Fehler begangen, sich nicht vor einen Zug werfen oder auf eine andere spektakuläre Art seinem Leben ein Ende zu setzen. Nein, meines Wissen ist er immer noch recht lebendig und erntete wahrscheinlich deshalb nicht so viel Sympathie und Aufmerksamkeit. Tote lassen sich eben wesentlich leichter vermarkten und stellen darüber hinaus an die Umwelt keine Ansprüche, die vollmundigen Versprechungen wenigstens ansatzweise einzulösen.

Angela Merkel äußerte die Vermutung, depressive Politiker_innen würden ihre Krankheit wahrscheinlich ebenfalls verschweigen. In ihrer Autobiografie »Freundesland« erzählt Rut Brandt davon, dass ihr Mann sich immer wieder mal für einige Tage ins Bett gelegt habe und nicht ansprechbar gewesen sei. Der Öffentlichkeit wurden diese Phasen stets als starke Erkältungen verkauft und manch einer empfahl Willy Brandt deshalb, doch endlich mit dem Rauchen aufzuhören.

Ich frage mich, wie das wohl in einigen Monaten sein wird? Wenn das Thema aus den alltäglichen Schlagzeilen verschwunden ist? Was wird passieren, sollte ein Profifußballer demnächst tatsächlich zu seinem Trainer gehen und zugeben, dass er nicht unter einer mysteriösen Viruserkrankung leidet, sondern eine Depression hat? Wenn sich vielleicht im nächsten Frühjahr die Filialleiterin einer Bank wegen einer Depression krankschreiben lässt und sie nicht wie bisher sonst versucht, mit Urlaubstagen eine ganz akute Phase zu überbrücken? Oder eine Autorin ihren Verlag wissen lässt: »Ich kann wegen eines depressiven Schubs den Abgabetermin nicht einhalten.«, statt einen PC Crash für die Verzögerung verantwortlich zu machen?

Köpfschüttelnd habe ich mir das Betroffenheitsgelabere der letzten Tage angehört und immer wütender einen ehrlichen und mutigen Menschen vermisst, der es gewagt hätte, Klartext zu reden: »Ein Torhüter, der vielleicht im entscheidenden Spiel bei der Fußballweltmeisterschaft nicht einsetzbar ist, ist für uns nicht tragbar. Ein solches Risiko wollen oder können wir nicht eingehen!«

Meiner Meinung nach hat Robert Enke seine Situation wenigstens in Teilen sehr realistisch gesehen, auch wenn es ihm am Ende nicht möglich gewesen war, Alternativen zu seinem beruflichen Leben als Fußballer zu erkennen, angebotene Hilfen von Fachleuten und aus dem privaten Umfeld anzunehmen und allmählich zu lernen, mit dieser Krankheit umzugehen.

Dass ausgerechnet dann, wenn ein Mensch kaum zum Handeln in Lage ist, es eigentlich dringend nötig wäre, sich selbst aktiv um sein Leben zu kümmern, gehört zur Absurdität der Depression. Man muss sich mit Krankenkassen herumschlagen, berufliche Entscheidungen treffen und gleichzeitig auf der Hut sein, damit sich ein un-wohlmeinendes Umfeld nicht mehr als unbedingt nötig einmischt und für eine Quasi-Entmündigung mit weitreichenden lebenslangen Konsequenzen sorgt.

Ich kämpfe seit mehr als dreißig Jahren immer wieder mal mit dieser Krankheit und weiß: Trotz all dieser Schwierigkeiten ist ein Überleben und relativ normales Leben mit einer Depression ebenso möglich, wie mit jeder anderen Krankheit oder Behinderung auch. Auch wenn es sicher lange dauert, bis man die für sich ganz persönlich geeigneten Therapien und Medikamente gefunden hat … und irgendwann sogar in der Lage ist, Warnzeichen einer drohenden neuen akuten Phase zu erkennen und entsprechend vorsorglich zu reagieren. Es muss nicht wie bei Robert Enke enden!

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