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Ein Land der vergewaltigten Frauen und der Vergewaltiger

Hannelore Renner war 12 Jahre alt, als sie Ende des Zweiten Weltkriegs von Soldaten vergewaltigt wurde. Ihr Schicksal ist im Gegensatz zu dem ihrer meisten Leidensgenossinnen heute einer breiten Öffentlichkeit bekannt, weil sie später mit Helmut Kohl verheiratet gewesen war und nach ihrem Tod mehrere Bücher über ihr Leben erschienen.

In den Jahren 1945/46 wurden in Deutschland geschätzte drei Millionen Frauen vergewaltigt. Genaue Zahlen gibt es dazu natürlich nicht, in jener Zeit wurden keine Statistiken erstellt. Die Filmemacherin Helke Sander geht zum Beispiel davon aus, dass sieben bis acht Prozent (ca. 100.000 bis 125.000) der in Berlin lebenden Frauen damals Opfer einer Vergewaltigung wurden.

Neben dem Holocaust waren die Vergewaltigungen das zweite große Tabuthema der Nachkriegszeit. Darüber wurde fast nie gesprochen, und wenn sie tatsächlich einmal zur Sprache kamen, dann nur als Nebensatz eingebettet in einer längeren Krieg- oder Fluchtgeschichte: „… und der Russe[1] hat dann ein paar Frauen vergewaltigt.“

Für das Schweigen gab es viele Gründe. Die Frauen schämten sich und wollten die kriegsheimkehrenden Männer nicht damit belasten. Sie waren mit der Organisation des Überlebens beschäftigt und hatten keine Zeit, sich um ihre Seele zu kümmern. Aber der wichtigste Grund war: Drei Millionen vergewaltigte Frauen mussten sich mit zehn Millionen Vergewaltigern arrangieren. Mit ihren Ehemännern, ihren Vätern, ihren Söhnen, ihren Nachbarn, ihren Arbeitskollegen.

Jahrzehntelang hatte man im Nachkriegsdeutschland die Mär der „sauberen“ Wehrmacht gehegt und gepflegt. Manchmal hörte sich das an, als hätten deutsche Soldaten keinen Krieg geführt, sondern wären als Pfadfinder auf Urlaubsreisen gegangen. Die Frage, ob sie vielleicht russische, französische, griechische … Frauen vergewaltigt haben könnten, ist ihnen gar nicht gestellt worden. Erst in den Neunziger wurde damit begonnen, die Geschichte der Wehrmacht zu erforschen und dabei auch ganz vorsichtig die Vergewaltigungen zum Thema zu machen.

In keinem anderen europäischen Land lebten nach dem Krieg so viele vergewaltigte Frauen mit so vielen Vergewaltigern auf engstem Raum zusammen. Kein Wunder, dass darüber nie gesprochen wurde, man diesen Teil der Geschichte nicht aufarbeiten wollte. Wie hätte das auch funktionieren sollen? „Ich bin übrigens bei Kriegsende vergewaltigt worden und wie viele Frauen hast du denn so als Soldat vergewaltigt?“

In den letzten zwei Tagen habe ich einige Beiträge von Juristen gelesen, die erklärten, weshalb das Hertener Urteil gar nicht anders hätte ausfallen können. Jeder Satz war distanziert, kühl und korrekt formuliert, enthielt keinen Funken Mitgefühl für das Opfer und schon gar nicht wurde hinterfragt, ob hier vielleicht in unserem Rechtsstaat etwas schief laufen könnte. Sie scheinen nicht der Lage zu sein, die Situation eines Vergewaltigungsopfers auch nur ansatzweise zu begreifen. Wie sollten sie auch? Schließlich sind ganze Generationen bei uns damit aufwachsen, dass Oma und Tante Gerda vergewaltigt wurden, Opa ein Vergewaltiger war und man trotzdem zusammenleben kann, indem diese Verbrechen einfach ausgeblendet werden.


[1] Es hat Jahrzehnte gedauert, bis offen darüber gesprochen wurde, dass auch amerikanische und französische Soldaten nach Kriegsende vergewaltigt haben. „Der Russe“ passte einfach besser zum politischen Klima in der BRD.

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