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Kasimir, der Unsichtbare

Wie immer bin ich zu spät dran. »Hast du meinen rechten Schuh gesehen?« frage ich hektisch die Liebste, während ich auf einem Bein durch die Wohnung hüpfe. Sie hat ihn nicht gesehen, hilft mir aber beim Suchen und findet ihn oben auf dem Regal wieder.

In unserer Wohnung wohnen außer der Liebsten und mir auch die Oma und Ida, unsere Hündin. Oma hat noch zwei Untermieter in ihrem Zimmer, Lora und Hansi. Vielleicht sind es ja auch zwei Untermieterinnen, da sind wir uns nicht ganz sicher. Dreck und Krach machen sie so oder so. Das sind die sechs sichtbaren Lebewesen.

Das siebte Lebewesen ist unsichtbar. Ähnlich wie die Mehlmotten und die Ameisen ist es gegen unseren Willen bei uns eingezogen. Wir haben es noch nie zu Gesicht bekommen, wissen also nicht, wie es aussieht. Wahrscheinlich ähnelt es Pumuckl, denn es muss ein enger Verwandter von ihm sein.

Wir nennen diesen Mitbewohner Kasimir, auch wenn nicht klar ist, ob er oder sie tatsächlich männlichen Geschlechts ist. Wenn es sich um eine Kasimira mit feministischen Attitüden handeln sollte, muss sie mit diesem Namen leben. Sozusagen als Strafe dafür, was sie uns antut, wie zum Beispiel einzelne Schuhe zu verstecken.

Die Liebste bestreitet energisch, den Schuh versteckt zu haben. Ida und Oma müssten schon fliegen, um so hoch zu kommen. Lora und Hansi können zwar fliegen, sind aber zu klein und schwach für den Transport eines solchen Schuhs. Und ich? Weshalb sollte ich meinen Schuh dort hinstellen?

Also ist es wieder einmal Kasimir gewesen. Warum bloß, was ist nur daran interessant, einen einzelnen Schuh oben auf einem Regal zu verstecken? Die Frage bleibt unbeantwortet, Kasimir zeigt sich nie, um eine Antwort darauf zu geben.

Ich habe auch keine Zeit, mich weiter darum zu kümmern, denn die Autopapiere sind ebenfalls nicht zu finden. Dann fahre ich eben ohne Papiere. Als ich das Handschuhfach im Auto öffne, liegen sie da. Und nicht nur sie, auch meine Sonnenbrille, die ich bereits seit Wochen suche, hat Kasimir ebenfalls dort deponiert.

Jedes Mal bei unserem Monatseinkauf nehmen wir auch Feuerzeuge mit. Meist drei an der Zahl, sie sind so abgepackt. Trotzdem verschwende ich jeden Tag viel Zeit mit der Suche nach einem Feuerzeug. Ich weiß, dass noch eine Stunde zuvor eines neben dem PC gelegen hat, eines in meiner Handtasche war, eines auf dem Küchentisch lag.

Es ist mir ein Rätsel, was Kasimir damit macht. Ob er irgendwelche Kumpane versorgt? Denn im Gegensatz zur Sonnenbrille und dem Schuh tauchen die Feuerzeuge nie mehr auf. Essen wird er sie wohl nicht, normalerweise steht er auf dieselben Lebensmittel wie wir auch. Zum Beispiel auf frischgebackene Brezeln. Zwei lagen eben noch auf dem Rost zum Abkühlen, nun sind sie weg. Die Hündin verrät uns, dass es Kasimir gewesen war. Ida kann ihn zwar auch nicht sehen, aber riechen und fühlen.

Die Chips für Einkaufswagen liebt Kasimir auch. Aber da kenne ich wenigstens sein Versteck: die Nachttischschublade der Liebsten. Wenn mal wieder so ein Ding aus meinem Geldbeutel verschwunden ist, werde ich dort eigentlich immer fündig. Meist entdecke ich bei der Gelegenheit auch noch drei, vier andere Dinge, die ich schon ewig suche.

»Du tust Kasimir wirklich unrecht«, erklärte mir eine Bekannte, die Expertin für unsichtbare Wesen ist. In ihrem Haushalt leben nämlich gleich zwei davon: Wo-ist-das? heißt der eine und Niemand-war-das! der andere.

»Euer Kasimir will euch doch nicht ärgern. Er hat eben einen ausgeprägten Ordnungssinn! Nur deshalb schmeißt er Omas Bananen- und Orangenschalen hinter die Heizung.« Und nicht zu vergessen, die Bonbonpapiere und die Fernbedienung ihres Fernsehers.

Nun ja, mit seinem exzentrischen Sinn für Ordnung könnte ich mich vielleicht noch abfinden. Nicht abfinden kann und will ich mich mit den sonstigen kleinen Gemeinheiten, die er sich so im Laufe eines Jahres einfallen lässt. Zum Beispiel reißt er mit wachsender Begeisterung Löcher in die Socken der Liebsten. Er muss dabei sogar eine Absprache mit der Waschmaschine getroffen haben. Das Verschwinden einzelner Socken überlässt er ihr, schließlich ist das, wie allgemein bekannt, ein Privileg der Waschmaschinen. Dafür darf er noch schnell Löcher reißen, bevor sie aus der Trommel genommen werden.

Meine Socken interessieren ihn diesbezüglich anscheinend nicht, bei mir konzentriert er sich auf die T-Shirts und verfleckt sie. Ebenfalls in Absprache mit der Waschmaschine, die sich wohl so für die viele Arbeit rächen will. T-Shirt ohne Flecken rein in die Waschmaschine, T-Shirt mit Flecken raus aus der Waschmaschine. Ein Vorgang, der mich irgendwann noch einmal in die Klapsmühle bringen wird.

Doch nun hat Kasimir unsere Geduld endgültig überstrapaziert. Schluss mit diesem unsichtbaren Herrn ohne Mietvertrag! Das Maß ist voll!

Mindestens fünfzig, sechzig cbm Wasser hat er im letzten Jahr verbraucht. Vielleicht hat er ja täglich ein Vollbad genommen, vielleicht hat er seine Kumpels zu Poolpartys in der Badewanne eingeladen, wenn wir nicht zu Hause waren.

Morgen besorgen wir in der Drogerie Leimstreifen. Irgendwann wird er daran wie einst Pumuckl am Leimtopf hängen bleiben und sichtbar werden. Und dann gibt’s Saures!

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