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Krankes Gesundheitswesen 9

Der Vorfall mit der Schwester der Sozialstation hat mich nicht nur wütend und traurig zugleich gemacht, sondern mir auch den nötigen Energieschub verpasst, mich endlich einmal selbst mit meinen Krankenakten zu beschäftigen. Bisher hatte ich mich davor gescheut, sie mir näher anzusehen. Mir hatte der Mut gefehlt, denn ich wollte gar nicht so genau wissen, was darin steht und hatte es der Liebsten überlassen, sie zusammenzutragen, zu lesen und zu ordnen.

Was mit einem unerklärlichen Oberschenkelhalsbruch begann, hatte sich mittlerweile zu zwei Jahren verlorene Lebenszeit entwickelt. Während ich keine andere Wahl gehabt hatte, Krankheiten und Behandlungen mehr oder weniger passiv über mich ergehen zu lassen, war die Liebste körperlich und seelisch Dauerstress ausgesetzt gewesen. Zwangsläufig hatte sie nicht nur die meisten meiner Aufgaben in Haushalt, Garten und mit den Hunden übernommen, sondern sie musste sich auch beinah täglich in irgendeiner Form um mich und meine ärztliche und pflegerische Versorgung kümmern. Und nicht zu vergessen, die Zeit auf der Intensivstation der Uniklinik, als sie um mein Leben bangte und in manchen Augenblicken befürchtete, vom Familienstand LP (in Eingetragener Lebenspartnerschaft) in LV (durch Tod aufgelöste Lebenspartnerschaft) geschubst zu werden, war auch nicht spurlos an ihr vorübergegangen.

Kein_e der vielen Ärzt_innen, mit denen wir es bisher zu tun hatten, vom Hausarzt über den Neurologen bis zum Chirurgen und der Internistin, war bereit gewesen, uns auch nur andeutungsweise etwas zu Fehlern und Verantwortung zu sagen. Vor konkreten Antworten auf unsere Fragen drückten sie sich jedes Mal geschickt und gaben höchstens unverbindliches Wischiwaschi von sich. »Keiner will in den Garten eines Kollegen scheißen«, meinte die Liebste einmal zornig nach solch einem sinnlosen Gespräch. »Oder vornehmer ausgedrückt, keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus.«

Schenkten wir ihnen und ihren Aussagen Glauben, war mir aus unerklärlichen Gründen der Himmel auf den Kopf gefallen oder so ähnlich. Schicksalshaft oder vielleicht auch gottgewollt, jedenfalls ohne jeden erkennbaren Anlass oder gar unter Beteiligung ihres Berufsstandes. Zugegebenermaßen sei das eine oder andere schon ein wenig merkwürdig verlaufen. Aber es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass bei irgendeiner Gelegenheit Fehler gemacht worden seien. Ich solle lieber froh darüber sein, mich inzwischen auf einem guten Weg zu befinden und nicht meine Gesundung durch Grübeleien über die Vergangenheit zu gefährden. Bekanntermaßen spiele beim Heilungsprozess auch die Psyche eine wichtige Rolle.

Rumms, da war sie dann, die Totschlagkeule. Wir können dir zwar nicht erklären, weshalb du so leiden musstest, aber im Zweifel und wenn du nicht aufhörst, Fragen zu stellen, dann bist du einfach selbst schuld an dem ganzen Schlamassel.

Statt zu entwirren, vergrößert ein Anruf bei der unabhängigen Patientenberatung mein Gefühlschaos nur noch. Die Dame am anderen Ende der Leitung nimmt sich viel Zeit, ist geduldig und besitzt die seltene Fähigkeit, mir als medizinische und juristische Laiin die komplizierten Sachverhalte verständlich zu erklären. Sie zeigt mehrere Möglichkeiten auf, wie ich nun vorgehen beziehungsweise was ich unternehmen könnte. Am Ende fordert sie mich auf, keine Hemmungen zu haben und noch einmal anzurufen, falls weitere Fragen auftauchen sollten. Trotzdem befriedigt mich das Ergebnis nicht. Mir wird bewusst, im Grunde genommen wollte ich etwas ganz anderes hören. Nichts darüber, wie ich nun wen verklagen oder sonst wie zur Verantwortung ziehen kann, sondern ich wollte eine Möglichkeit finden, die Zeit zurückzudrehen, die ganzen letzten Jahre einfach zu vergessen und unbeschwert im Blumenbeet beim Unkrautzupfen weiterzumachen. Ein unerfüllbarer kindischer Wunsch.

Vergeblich suchen wir nach Krankengymnast_innen, die ins Haus kommen. »Wo wohnen Sie denn?« fragt der verschreibende Arzt verständnislos. »Im Unterholz?«

Nicht ganz, aber beinah. Auf jeden Fall leben wir auf dem Land und wie schlecht die medizinische Versorgung vor Ort ist, macht mir erst meine eigene Betroffenheit bewusst.

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