Es passiert beim Geschirrspülen. Als ich mit der rechten Hand einen Teller in den Geschirrkorb links neben dem Wasserbecken stellen will, spüre ich einen Stich im unteren Teil des Rückens. Keinen harmlosen Mückenstich, es fühlt sich eher an wie ein spitzes Messer.
»Hexenschuss«, fährt mir sofort durch den Kopf und in Erinnerung an eine ähnliche Situation vor ungefähr zehn Jahren, gebe ich mir energisch den Befehl: »Gerade hinstellen und tief durchatmen!«
Kaum eine Minute später ist der Schmerz wieder abgeebbt. Nichts tut mehr weh und ich kann mich ganz normal bewegen. Komisch. Ob das vielleicht etwas mit meinem Alter zu tun hat und allmählich nun diverse Zipperlein kommen und gehen werden?
Beim Unkrautzupfen 24 Stunden später kommt der Schmerz wieder. Schlagartig und bestialischer als am Tag zuvor. Diesmal hilft weder atmen noch gerade hinstellen. Zusammengekrümmt kniee ich im Blumenbeet und beiße auf die Unterlippe, um nicht laut loszuschreien. Es hätte sowieso keinen Sinn, auf Hilfe zu hoffen. Um diese Uhrzeit sind die direkten Nachbar_innen genau wie die Liebste bei der Arbeit und bis ins Dorf hinunter wird man mich wohl kaum hören. Auf allen Vieren krieche ich die paar Meter bis zur Hauswand, klammere mich an einem Fenstersims fest und kann mich langsam in die Höhe ziehen.
Seit zwei Tagen liege ich im Bett oder auf der Couch. Von der Pobacke bis zur Kniekehle tut mir das linke Bein bei jeder noch so kleinen Bewegung höllisch weh. Ins Bad schaffe ich es nur mithilfe eines Küchenstuhls, der zu einer Art Hauruck-Rollator umfunktioniert wird. Meine Selbstdiagnose lautet irgendwas mit Ischias, ein medizinisch korrekter Begriff will mir dazu nicht einfallen. Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es damals vor zehn Jahren gewesen war. Eine Spritze vom Hausarzt, Schmerzmittel, Wärme, Ruhe und viel Geduld. Irgendwann war es vorbei gewesen, warum sollte es diesmal anders sein? Montag muss mich die Liebste zum Arzt fahren.
Bis Montag kann ich dann doch nicht mehr warten, die Schmerzen sind einfach unerträglich. Wozu gibt es einen ärztlichen Notdienst am Wochenende?
Überraschend schnell taucht nach unserem Anruf bei der Zentrale ein grauhaariger Arzt auf. Er ist vermutlich schon längst in Rente und jetzt dabei behilflich, die katastrophale ärztliche Versorgung auf dem Land etwas abzumildern. Eine schmerzstillende Spritze will er mir nicht geben, stattdessen besteht er auf einer Einweisung ins Krankenhaus Buchen. Mein lautstarker Protest interessiert ihn nicht. Schnell wird klar, dass ich keine andere Wahl habe. Wenn ich ein Schmerzmittel haben will, muss ich ins Krankenhaus, er wird mir nichts geben. Zähneknirschend gebe ich schließlich nach und beschließe, sobald ich meine Spritze bekommen habe, wieder nach Hause zu gehen. Laut sage ich das natürlich nicht.
Die Sache mit dem »gleich wieder nach Hause gehen« hat leider nicht geklappt. Drei Tage später liege ich immer noch im Krankenhaus, wurde mehrmals geröntgt und in die Röhre geschoben. Verschiedene Ärzte haben mich untersucht, an meinem Bein gedrückt und gezogen, während sie unverständliches Zeug laberten und meine Schmerzensschreie ignorierten.
Jetzt endlich scheinen sie zu wissen, was mir fehlt. »Diagnose: Oberschenkelhalsbruch«, teilen mir drei Herren in weißen Kitteln mit ernster Miene mit.
»Das kann nicht sein«, entfährt es mir spontan und ich kichere los. Einen Oberschenkelhalsbruch haben alte Leute nach einem Sturz. Ich bin weder alt noch hingefallen. Na ja, außer ich habe wesentlich mehr Jahre auf dem Buckel, als ich mir gerade einbilde, leide an Demenz und kann mich an die letzten Jahre im Allgemeinen und einen Sturz im Besonderen einfach nicht erinnern?
Die drei Herren verschwinden und kurz darauf kehrt einer von ihnen mit einem Röntgenbild als Beweis zurück. Auch wenn ich kaum etwas darauf erkennen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Oberschenkelhalsbruch, morgen wird operiert.
Meine Bettnachbarin Leni gibt sich alle Mühe, einen Lachkrampf so lange zu unterdrücken, bis der Arzt endlich das Zimmer verlässt. Es ist kein lustiges, fröhliches Lachen, sondern klingt böse und bitter. Fassungslos schüttelt sie immer wieder den Kopf und braucht lange, bis sie sich beruhigt hat.
Seit Montagmorgen ist sie hier, gekommen war sie für einen Minieingriff und sollte eigentlich nach ein paar Stunden wieder nach Hause gehen können. Nun haben wir bereits Mittwoch, der Eingriff ist immer noch nicht durchgeführt, stattdessen werden ständig neue Untersuchungen an ihr vorgenommen. Schon vor meiner Diagnose hatten wir beide die Befürchtung, in die Hände eines Haufens von Dilettanten geraten zu sein. Wieso dauert es drei Tage, bis ein Oberschenkelhalsbruch festgestellt wird? Was ist daran denn so schwierig?
In aller Frühe kommt eine nette Schwester und hilft mir beim Duschen und Haare waschen. Nach der Operation wird es wohl einige Tage dauern, bis sich dazu wieder eine Gelegenheit ergibt. Ich habe Angst und ein mulmiges Gefühl im Magen. Allerdings scheinen die Beruhigungsmedikamente bereits zu wirken, denn es macht sich schnell eine »mir doch alles egal« Stimmung breit. Ich bekomme noch nicht einmal mit, als ich in den OP gefahren werde.