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Lesbe unter Nachbarn

„Der Fernseher der Oma ist zu laut!“ teilte mir die Liebste mit, als sie zurück kam. Sie hat es gerade beim Friseur erfahren. Und dort wußte man es, weil sich die Nachbarn beschwert hatten.

Erst starrte ich sie verblüfft an, dann lachten wir beide laut los. Dabei ist „Stimmenhören“ eine traurige Angelegenheit und bedarf normalerweise der Therapie durch einen besonderen Arzt. Die Betroffenen sollten unser Mitleid erfahren und nicht unseren Spott.

Oma, die zwar nicht wusste, dass es um sie ging, lachte mit. Über gute Stimmung in der Bude konnte sie sich immer freuen – genauso wie über die Sportsendungen im TV, die sie wie alles andere auch stets ohne Ton sah. Dem Gelabere der Moderatoren konnte sie schon lange nicht mehr geistig folgen und so begnügte sie sich mit den Bildern und machte sich ihre eigenen Gedanken zum Geschehen auf dem Bildschirm. Als wir nach ihrem Tod das erste Mal versuchten, ihren Fernseher für uns selbst zu nutzen, war das Gerät vollkommen irritiert. Nach fünf Jahren Mucksmäuschenstille brauchte es Stunden für die Erkenntnis, dass ein Fernseher nicht nur Bilder, sondern auch Töne von sich geben kann.

Weniger zum Lachen war uns, als uns ein Nachbar nachts um drei aus dem Bett klingelte und sich beschwerte, weil sein Garagentor von einem Auto blockiert werde. Wir konnten ihn ja verstehen, nur mit dem Auto hatten wir nichts zu tun und konnten ihm beim besten Willen nicht weiterhelfen. Der Satz „Entschuldigung, dass ich Sie geweckt habe“, kam ihm leider nicht in den Sinn – genauso wenig wie die Möglichkeit, noch andere Nachbarn herauszuklingen…wie wir durch Zufall am nächsten Tag erfuhren, dort hätte er den Blockierer nämlich finden können.

Vor einigen Jahren trafen wir bei einer Veranstaltung eine sogenannte Landlesbe, die uns ihr Leid klagte. Als Lesbe auf dem Land zu leben kommt gelegentlich einem Spießrutenlauf gleich und viele packen deshalb ihre Koffer und erbitten Asyl in der nächsten großen Stadt. Auch in so manchen einschlägigen Foren ist zu diesem Thema einiges nachzulesen.

Die Liebste und ich fühlten uns damals davon noch nicht betroffen. Wir schienen es in der Beziehung gut getroffen zu haben. Wir wussten, oder besser wir ahnten, dass sich einige über uns „das Maul zerrissen“. Aber so lange man uns sonst in Ruhe ließ, war das in Ordnung. Das Leben vieler Menschen ist so traurig ereignisleer, da brauchen sie es einfach, über andere herzuziehen.

Der Frust, der Ärger, teilweise auch die Angst, kam erst im Laufe der Zeit. Anfangs war es oft noch spaßig gewesen, wenn wir von dem einen oder anderen Gerücht erfuhren. Manchmal hätten wir gern so ein verruchtes Leben, wie es uns unterstellt wurde, geführt – zum Beispiel an den Samstagabenden, wenn wir erschöpft vor dem Fernseher dösten anstatt uns ins aufregende Lesbenleben der nächsten Großstadt zu stürzen.

Der Spaß hörte allerdings spätestens dann auf, als die Liebste auf der Straße von einem Fremden angesprochen wurde. Er bat darum, einmal an einer der Lesbenorgien teilzunehmen zu dürfen, die bei uns regelmäßig stattfänden… Er würde dabei gerne den Barkeeper machen, sagte er. Woher er davon wusste? Von unseren Nachbarn, die bei diesen Gelegenheiten unter unerträglichem Lärm und Sexgeräuschen litten – auch hier wären wohl Medikamente gegen „Stimmenhören“ und sonstige Halluzinationen angebracht…

Wie stopft man solchen Menschen das Maul, mal deutlich gefragt. Wir wussten es nicht, wir wollten nicht noch Öl ins Feuer gießen und ließen diese Sache wie viele andere auf sich beruhen. Nur nicht provozieren lassen, dachten wir. Immerhin kennt ja (fast) Jede die bitterböse Geschichte von Zwerenz, wo der Streit unter Nachbarn in einem Atomkrieg endet. Als Kinder der Friedensbewegung wollten wir nicht im Internet nach einer Anleitung „Wie baue ich meine eigene Atombombe?“ googlen.

Also suchten wir nach anderen Lösungen. Wenn die Hitparade der Volksmusik aus dem Fernseher unserer Nachbarn zu unerträglich wurde, verbrachten wir den Abend eben in einem anderen Zimmer. Als die ständigen Umzüge innerhalb der Wohnung überhand nahmen, vertauschten wir Wohnzimmer mit Schlafzimmer. Als uns über zwanzig Umwege zugetragen wurde, an den ständig überquellenden Mülltonnen seien wir schuld, stellten wir es weder richtig noch hielten wir den wahren Schuldigen Vorträge über Müllvermeidung. Stattdessen kauften wir Extramüllsäcke bei der Gemeinde. Über zwei Jahre beteiligte sich Oma zwar an den Gemeinschaftsmüllgebühren des Hauses, ihre Inkontinenzartikel kamen aber nicht mehr in die Gemeinschaftsmülltonne, sondern in den Sack, der uns Woche für Woche 2,50 € extra kostete.

Im Sommer jagten wir jeden Morgen die Vögel aus unserer Wohnung, die vom vogelliebhabenden Nachbarn zu Hunderten angelockt wurden und unsere offene Terrassentür als Einladung verstanden. Sechs, sieben Jahre lang entfernten wir im Frühjahr die Vogelkacke mit Desinfektionsmitteln, brachten verschissene Blumentöpfe und Terrassenstühle zum Sperrmüll und reinigten im Sommer in einem akrobatischen Akt einmal im Monat das Vordach. Im letzten Sommer hörten wir dann einfach auf, die Terrasse überhaupt noch zu nutzen. Ebenso wie wir aufhörten, unseren Platz im Speicher zu beanspruchen, nachdem er mit dem Gerümpel anderer mehr und mehr voll gestellt worden war. Stattdessen bestellten wir nach Omas Tod den Sperrmüll und gaben den Platz bis auf ein kleines Eckchen kampflos frei. Wir ärgern uns nicht mehr über die Dame, die in ganzen fünf Jahren nicht einmal zurückgrüßen konnte und die wir als Quell all der bösen Gerüchte und vielen Gemeinheiten vermuten, sondern hörten einfach auf, sie ebenfalls zu grüßen und denken wie die Lesbe, die wir vor Jahren trafen, ernsthaft über einen Umzug in die Großstadt nach.

 

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