Neulich flatterte mal wieder die Renteninformation ins Haus. Sie wird einmal im Jahr ungebeten zugestellt, wahrscheinlich, weil man Frauen wie mich daran erinnern will, dass unsere bisher erworbenen Rentenansprüche dereinst weder zum Leben noch zum Sterben reichen werden. Manchmal habe ich den Verdacht, beim Versand dieser Post schwingt unterschwellig die Hoffnung mit, vielleicht nehmen sie sich ja einen Strick, bevor sie gaga werden und der Allgemeinheit zur Last fallen.
Viele Jahre lang haben bei mir die Schreiben auch beinah ihr Ziel erreicht. Ein ums andere Mal überkam mich ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil mein bisheriges Berufsleben so chaotisch war und ist und meine Rentenanwartschaftszeiten voller Lücken sind. Das änderte sich erst, nachdem ich die Renteninformation der Liebsten zu Gesicht bekommen hatte. Im Gegensatz zu mir kann sie seit ihrem 18. Lebensjahr einen beinah lückenlosen Verlauf aufweisen. Trotzdem wird ihre Rente voraussichtlich kaum den Betrag der Grundsicherung übersteigen, denn in den ersten zwanzig Jahren verdiente sie gerade genug, um nicht zu verhungern oder zu erfrieren. Aus familiären Gründen örtlich fest (an)gebunden, musste sie ein Gehalt akzeptieren, das nach dem System „Egal, welche Qualifikation, Männer als momentane oder zukünftige Versorger einer Familie brauchen wesentlich mehr Geld als Frauen“ gezahlt wurde.
Der niedrige Lohn aus diesen zwei Jahrzehnten und die dadurch zwangsläufig niedrigen Rentenbeitragszahlungen werden sie eines Tages ebenso in die Altersarmut führen wie mich die Rentenlücken. Das bisschen private Vorsorge, das wir uns mit Hängen und Würgen gerade mal leisten können, wird aller Voraussicht nach an dem Grundproblem kaum etwas ändern. Uns bleibt nur ein mieses Gefühl bei Lesen der Rentenversicherungsbriefe, eine diffuse Angst vor dem Alter und die Erinnerung an eine Szene aus dem Film Soylent Green: Vielleicht wird diese Art des Selbstmords ja in nicht allzu ferner Zukunft gleich zusammen mit der Renteninformation angeboten.
Zurzeit gelingt es mir trotzdem noch ganz gut, die drohende Armut meistens aus meinen Gedanken zu verdrängen. Zum einen kann ich das Problem eh nicht lösen und zum anderen hoffe ich darauf, noch viel Zeit zu haben, bis es tatsächlich aktuell wird. Doch gerade in den letzten Tagen konnte ich gar nicht anders, als mich damit zu beschäftigen. In den Siebzigern habe ich in einem schwedischen Krimi entsetzt von Rentner_innen gelesen, die sich mit Hunde- oder Katzenfutter ernähren, weil ihr Geld für anderes Essen einfach nicht ausreicht. Bei den ersten Meldungen über die Pferdefleischlasagne schoss mir durch den Kopf: „Ekliger als Hunde- oder Katzenfutter kann das Zeug auch nicht schmecken.“
Wie schon bei all den anderen Lebensmittelskandalen der letzten Jahre oder den falschen Bio-Eiern, die seit gestern Schlagzeilen machen, scheinen sich Politik und Medien mehr oder weniger wieder einig zu sein: Wer billig einkauft, muss mit so was rechnen. Zwischendurch wird zwar gelegentlich die halbherzige Bemerkung eingeschoben, natürlich müsse auch in einem Billiglebensmittel drin sein, was außen draufsteht. Aber im Grunde genommen bleibt es bei der Behauptung: Arme Menschen sind selbst schuld, wenn sie nicht mehr als 1,79 € für eine Tiefkühllasagne bezahlen könnten.
„Ich kaufe nur beim Metzger meines Vertrauens“, klingt ebenso arrogant wie Steinbrücks Aussage, er würde keinen Pinot Grigio für 5 € die Flasche trinken. Auch die Bemerkungen, selbst gemachte Lasagne oder was auch immer wäre sowieso billiger und schmecke darüber hinaus auch besser, sind meist wenig hilfreich, sondern beinah schon unverschämt. Um auf Fertigprodukte verzichten zu können, braucht ein Mensch nicht nur enorm viel Zeit, sondern außerdem noch Kenntnisse, eine gut ausgestattete Küche und gewisse motorische Fähigkeiten, die zum Beispiel im Alter allmählich abhandenkommen.
Die ev. Sozialstation in einer Nachbargemeinde bietet Essen auf Rädern für 6,90 € pro Mahlzeit incl. der Lieferung an. Betriebswirtschaftlich gesehen ist der Preis ganz bestimmt nicht zu hoch, doch welche Rentnerin kann sich ein Mittagessen für 6,90 € leisten? Wenn sie nicht mehr genügend Kraft hat, um einen Topf Wasser für Nudeln auf den Herd zu stellen oder ihre Hände fürs Kartoffelschälen zu sehr zittern, bleibt ihr nur die Wahl zwischen dem Essen auf Rädern, vorausgesetzt sie kann es sich leisten, oder der Pferdelasagne aus der Tiefkühltruhe, die nur aufgewärmt werden muss, oder sie verzichtet eben ganz auf warme Mahlzeiten, falls sie nicht sowieso schon längst auf Hunde- oder Katzenfutter umgestiegen ist.