Die Veranstaltung in Kleve, Fragen und Erzählungen von Teilnehmer_innen und besonders ein Tweet, haben mich sehr nachdenklich gemacht. Aus verschiedenen Gründen ist es natürlich wichtig, bei Veranstaltungen und auf Podien über #idpet zu informieren, doch den LSBTTIQ Jugendlichen hier auf dem Land hilft das in ihrer aktuellen Situation kein bisschen weiter. Auf der langen Zugfahrt zurück in den Odenwald kam mir dann die Idee eines Brandbriefes. (Brandbrief laut Duden: „sehr dringendes Bittschreiben, Mahnbrief“).
Liebe Menschen mit politischer Verantwortung in Baden-Württemberg,
vor ziemlich genau einem halben Jahr habe ich zum ersten Mal von der Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ erfahren. Um ehrlich zu sein, bis dahin hatte mich der Bildungsplan 2015 nicht besonders beschäftigt. Schulpolitik gehört nicht zu meinem Interessengebiet, weder arbeite ich im schulischen/pädagogischen Bereich, noch habe ich schulpflichtige Kinder.
In meiner Eigenschaft als lesbisch-feministisch Bloggerin, wie ich mich selbst bezeichne, oder als Homo-Lobbyistin, wie mich gewisse Menschen neuerdings zu nennen pflegen, war es allerdings unausweichlich, mich mit dieser Petition auseinanderzusetzen. Schließlich stellte sich ja ziemlich schnell heraus, dass es den meisten der Initiator_innen und Unterzeichner_innen weniger um einen Bildungsplan ging, sondern schlicht um die Möglichkeit, ihrer Abneigung oder auch ihrem Ekel und Hass gegenüber LSBTTIQ endlich einmal Luft verschaffen zu können.
Was im Rahmen und Umfeld dieser Petition passierte, brauche ich hier jetzt nicht aufzuführen. Nach anfänglichem Zögern ist darüber in den Medien viel berichtet worden und Menschen, denen das Thema trotzdem entgangen sein sollte oder die noch Genaueres dazu erfahren wollen, können es gern auf meinem und anderen Blogs nachlesen oder bei einer Suchmaschine unter dem Hashtag #idpet recherchieren. Dabei werden sie dann auch erfahren, dass das Konzept der Leitprinzipien und der sexuellen Vielfalt noch einmal überarbeitet werden soll und deshalb der Bildungsplan ins Jahr 2016 und somit in die nächste Legislaturperiode verschoben wurde. Möglicherweise war das ein taktisch kluger Beschluss, um den Druck aus der ganzen Geschichte zu nehmen, vielleicht aber auch nur feiges Einknicken vor dem Mob. Doch da die Entscheidung nun einmal so gefallen ist, wäre es wenigstens für den Moment reine Zeit- und Energieverschwendung, über die Gründe zu spekulieren.
Natürlich habe ich mich in den letzten Monaten über die eindeutigen Stellungnahmen von Politiker_innen, beispielsweise des Ministerpräsidenten, des Kultusministers und vieler anderer, gefreut. Auch dass Nils Schmid Schirmherr des diesjährigen Stuttgarter CSD sein wird, gehört ebenso zu den positiven Dingen wie vorher schon die Beteilungsworkshops zum Aktionsplan „Für Akzeptanz und gleiche Rechte“. Es tut sich was in Baden-Württemberg …
… allerdings nur in den Städten bzw. größeren Gemeinden. Im ländlichen Raum ist von positiver Veränderung nichts zu spüren. Im Gegenteil, dort hat die Petition und die damit einhergehende Diskussion sehr großen Schaden angerichtet und die Verschiebung des Bildungsplans macht die Situation noch katastrophaler. Wenn politisch Verantwortliche und Vertreter_innen von LSBTTIQ aus Stuttgart, Mannheim oder Freiburg gemeinsam Pläne schmieden, übersehen sie dabei meist leider die völlig andere Situation auf dem Land und die Tatsache, dass städtische Konzepte nicht einfach übertragbar sind.
Im ländlichen Raum gibt es für LSBTTIQ Jugendliche keine Beratungsstellen in der Nähe und der ÖPNV ist in der Regel so miserabel, dass sie auch nicht die Angebote in den nächsten Städten nutzen können. Bis zu ihrem 18. Geburtstag und einem Führerschein sind sie den Gegebenheiten vor Ort hilflos ausgeliefert. Manchmal können sie noch nicht einmal im Internet Rat suchen, weil in vielen Sicherheitsprogrammen Worte wie „lesbisch, schwul oder transsexuell“ als pornografisch gelten und unabhängig vom Inhalt entsprechende Suchergebnisse pauschal gesperrt werden. Wegen der großen Unsicherheit darüber, wie die Situation nach den Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg sein wird, stehen inzwischen sogar einige der Lehrer_innen, die bisher auf einer halb privaten Ebene als Ansprechpartner_innen für LSBTTIQ Jugendliche in den Schulen fungierten, nicht mehr zur Verfügung.
Stammtischparolen, Mobbing auf dem Schulhof und Pfarrer_innen, die mit der Bibel gegen Homosexualität argumentieren, gehörten schon immer zum Alltag von LSBTTIQ Jugendlichen. Dank der Petition wissen sie nun darüber hinaus, welche ihrer Lehrer_innen zu den Unterzeichner_innen gehören und welche Menschen aus der Nachbarschaft sich mit schriftlichen Hasskommentaren dazu geäußert haben. Sie haben in den letzten Monaten erlebt, wie Onkel oder Tante die Situation zum Anlass nahmen, um beim Sonntagskaffee laut und deutlich über LSBTTIQ herzuziehen, und der Wahlkreisabgeordnete, von dem ihre Eltern so viel halten, Grußworte an Demonstrant_innen gegen den Bildungsplan, die selbst ernannten „besorgten Eltern“, schickt. Da ich im Wahlkreis von Peter Hauk lebe, weiß ich gerade über Letzteres mehr, als ich je erfahren wollte.
Zur Erinnerung: „Das Suizidrisiko von Lesben und Schwulen zwischen 12 und 25 Jahren ist vier- bis siebenmal höher als das von Jugendlichen im Allgemeinen“. Besonders im ländlichen Raum sind Schulen DER Ort für Jugendliche, deshalb könnte z. B. die sofortige Etablierung von speziellen Vertrauenslehrer_innen eine mögliche Zwischenlösung sein. Vielleicht gibt es auch noch bessere Ideen, wie LSBTTIQ Jugendliche auf dem Land JETZT unterstützt werden können? Alternativ erwähne ich noch den zugegeben sehr polemischen Vorschlag einer Lehrerin: Erstellung einer Studie nach der Landtagswahl 2016: „Erhöhung der Suizidrate von LSBTTIQ Jugendlichen im ländlichen Raum nach Petition und Verschiebung des Bildungsplans.“
In der Hoffnung auf bessere Zustände und ein Handeln Ihrerseits
Nele Tabler
Landesregierung Baden-Württemberg
Kultusministerium Baden-Württemberg
Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
Landtagsfraktion SPD