Ich bin noch nie bei einem »Barcamp« gewesen und kann mir erst seit »Gendercamp: Nicht richtig satt geworden« von Antje Schrupp vorstellen, worin der Unterschied zu meinen bisherigen Erfahrungen mit Workshops, Seminaren etc. besteht. Bei den beschriebenen Strukturen würde ich vermutlich am Ende ähnlich wie sie ein Gefühl von »nicht richtig satt geworden zu sein« haben. Was nicht gegen Barcamps spricht, sondern eher ausdrückt: Je älter ich werde, desto mehr sehne ich mich nach einem Chaos, das organisiert ist.
Durch Twitter ist über das diesjährige Gendercamp natürlich auch zu einiges bis zu mir vorgedrungen, trotzdem hat mich die Explosion in meiner Timeline erst überrascht und dann erschreckt. GwenDragon hat es heute wunderbar auf den Punkt gebracht: »Web 2.0 = RL 1977«. Nur allzu bekannte Konflikte aus den 70igern waren 1:1 in der heutigen digitalen Welt gelandet.
Dass anscheinend ein Beitrag von Lantzschi Auslöser des Ganzen war, wunderte mich zunächst nicht. Ab und zu drückt sie sich schon ziemlich drastisch aus, was mir mal die Sprache verschlägt, mal mich schallend lachen lässt. Denn oft würde ich gern ebenso deutlich rauskotzen, was ich von diesem oder jenem halte, andererseits widerspricht dieses Verhalten meiner Harmoniesucht. Manchmal stört mich auch ihre akademische Sprache, allerdings schreibt sie für andere Zielgruppen und »niederschwellige« Texte würden dort wahrscheinlich nicht gut ankommen.
»Halt dich da bloß raus«, empfahl mir die Liebste, nachdem sie einige Kommentare und Tweets gelesen hatte. »Da scheint im Hintergrund was ganz anderes abzugehen, als es nach außen den Anschein hat.« Dieser Warnung hätte es nicht bedurft, weil ich mir selbst schon ähnliche Gedanken gemacht hatte. Außerdem hätte ich dazu erst mal »Gendercamp 2012– Review zu Reproduktionsarbeit« lesen müssen. Kein Layout für mich, diese kleine blassgraue Schrift auf weißem Hintergrund. Bei solchen Blogs hilft mir nicht mal meine Lesebrille, da brauche ich dann schon die Bildschirmlupe.
Mund halten, ignorieren, so tun, als würde das alles nicht bei mir ankommen, obwohl sich inzwischen beinah meine halbe Timeline damit beschäftigte und man nach den Beschimpfungen bereits dazu übergegangen war, sich gegenseitig zu entfolgen und zu blocken. Das hätte nur funktionieren können, wenn ich den PC ausgeschaltet hätte. So aber stiegen mehr und mehr Erinnerungen an »RL 1977« auf.
Und schließlich stolperte ich über den Begriff: »Homosexualität unterstellen«. Geht’s noch? Unterstellen = beschuldigen, bezichtigen, Schuld geben, in die Schuhe schieben, vorwerfen, denunzieren, inkriminieren. Als Erstes entfolgte ich den Kerl, der das geschrieben hatte, und als Nächstes las ich nun doch Lantzschis Post …
und begriff gar nichts mehr. Entgegen meiner Erwartung konnte ich dort nichts Dramatisches, Drastisches, Unverschämtes, Provozierendes finden. Noch nicht mal die »geschraubte« Ausdrucksweise.
Viele der Sätze hätten Wort für Wort von mir sein können. Von mir aus meiner heutigen Sicht. Aber auch von mir damals, von vor ungefähr dreißig Jahren. Von mir als Lesbe, als alleinerziehende Mutter, als eine, die irgendwie nie richtig in diese »Vater-Mutter-Kind-Idylle«, in diese Heteronormativität, passte. Von einer, die sich jahrelang beinah täglich über allgemeine Kinderfeindlichkeit ärgerte, über Veranstaltungen, die nicht kinderkompatibel waren, über ignorante Orga-Teams und Teilnahmebedingungen wie »Männliche Kinder nur bis zu vier Jahren.« Die zur gleichen Zeit aber auch oft von Kindern genervt war und mit einer politischen Weggefährtin einen Plan ausheckte: »Die lieben Kleinen mit Cola und Chips in einem Paket verpacken, unfrei nach Timbuktu schicken. Dort wird die Annahme natürlich verweigert, das Paket kommt retour. Doch bis dahin haben wir ein paar wunderschöne Tage«.
Ich habe mich auf Bundesdelegiertenversammlungen über Joschka Fischers Hund (oder den seiner Freundin) geärgert, dem mein Sohn hinterherrannte, und über eine Kinderbetreuung, die solange verschwand, dass ich schon nach einer polizeilichen Fahndung schrie. Und beinah hätte ich einmal einer dieser »Denkt doch an die Kinder« Müttern den Hals umgedreht, als sie mir, der Lesbe, Händchen haltend mit ihrem Ehemann erklärte, Kinder bräuchten nun mal eine funktionierende Familie. Währenddessen war ihre Tochter gerade dabei, meine Unterlagen vollzukritzeln.
»RL 1977«, die Auseinandersetzungen zwischen den feministischen Heten und den feministischen Lesben, immer wieder entzündet an dem Punkt, dass die Lesben neidisch auf das heterosexuelle Familienidyll seien. Déjà vu bei diesen Kommentaren. Neudeutsch heißt das wohl Lesbenbashing. Tage, an denen ich das Gefühl habe, mal kurz zur radikalfeministischen Kampflesbe werden zu müssen. Wäre da nicht, wie oben bereits erwähnt, meine Harmoniesucht. Also werde ich mal anfangen, über andere Lösungen nachzudenken. Aber erst mal suche ich jetzt nach einer kitschigen DVD. Mit einer Welt voller Lesben, die sich alle mögen und lieben, und in der Heteros nicht vorkommen.