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reFormierte Gesundheit

Verschlafen registriere ich mit einem halb geöffneten Auge, wie die Liebste am ersten Januar dieses Jahres in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett springt und sich anzieht.
„Ich geh mal schnell zum Bankautomaten“, sagt sie und ist auch schon verschwunden.

Zurück kommt sie mit einem Bündel druckfrischer Zehneuroscheine.
„Was willst du denn damit?“ frage ich erstaunt.
Sie antwortet mit einer Gegenfrage:“Warum halten ab heute so viele Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene vor Bankautomaten?“
Ich habe keine Ahnung.
„Weil die Unfallopfer erst ihre zehn Euro Eintrittsgeld für die Notaufnahme abheben müssen“, lautet ihre Antwort.

Sie holt einen Bilderrahmen und legt drei druckfrische Zehneuroscheine hinter Glas.
Für den medizinischen Notfall schreibt sie auf die Scheibe und hängt den Rahmen in die Fotogalerie im Flur, gleich neben die Notfallzigarette.

„Zehn Euro für dich, zehn für Oma, zehn für mich. Es könnte ja sein, dass wir mal gleichzeitig den Notarzt brauchen. Bei einer Lebensmittelvergiftung zum Beispiel“, erklärt sie mir.

„Ihr müsst noch ein Hämmerchen daneben hängen“, meint später eine Freundin, als ich ihr davon erzähle. „Um bei Bedarf schnell die Scheibe einschlagen zu können.“

An die nächsten drei Zehneuroscheine tuckert die Liebste kleine Etiketten, ebenfalls mit der Aufschrift „Für den medizinischen Notfall“.
Diese Scheine kommen in die Geldbeutel, damit sich unsere Krankenwagen im Falle eines Falles nicht erst am Bankautomaten in die Schlange einreihen müssen.

Drei weitere Scheine legt sie für die nächsten Tage bereit, wenn wir das erste Mal in diesem Jahr zum Arzt gehen werden. Denn schon seit Weihnachten hält eine ordinäre Erkältung die Liebeste und mich im Würgegriff. Und Oma bekommt eh einmal die Woche Besuch von ihrem Hausarzt.

Diese beobachtet das Unterfangen der Liebsten skeptisch und fragt schließlich, was wir denn da mit dem Falschgeld treiben.
Mehrere Währungsumstellungen hat sie klaglos in ihrem Leben mitgemacht. Beim Wechsel von der DM zum Euro streikte sie. Euros sind für nichts anderes als Falschgeld und ein erneuter Versuch, wahlweise ihrer Töchter oder der Regierung, sie um ihre sauer verdiente Rente zu betrügen. Und auch die Geschichte mit dem Eintrittsgeld beim Arzt nimmt sie uns nicht ab.

„Hättet ihr wie ich immer in die Versicherung eingezahlt, müsstet ihr jetzt nichts zahlen“, erklärt sie uns selbstzufrieden auf.

„Jetzt sind wir bereits neunzig Euro los“, stelle ich seufzend fest. „Wenigstens theoretisch und das Jahr hat noch nicht einmal richtig angefangen“.
„Aber wir haben vorgesorgt“, sagt die Liebste und legt sich wieder ins Bett. Schließlich ist Feiertag.

In Herders neuem Volkslexikon, das eine meiner Heldinnen gelegentlich zu Rate zieht, steht unter dem Begriff Reform kurz und knapp: „planmäßige Verbesserung“. Das mag früher auch zutreffend gewesen sein. Heute bedeutet das Wort Reform aus dem Mund der PolitkerInnen nichts anderes, als dass sie die Vorsilbe Re verschlucken und lediglich eine neue Form gefunden haben, wie sie uns das Geld aus der Tasche ziehen können.

Als Diabetikerin glaubte ich unter die sogenannten chronisch Kranken zu fallen und nur 1% meines Einkommens für die Zuzahlungen aufbringen zu müssen.

Ebenfalls in Herders Neuem Volkslexikon steht unter dem Begriff chronisch: „bei Krankheiten langsam einsetzend und langsam verlaufend“ Das trifft auf Diabetes zu, wenigstens meiner Meinung nach.

Frau Ulla Schmidt und ihre Kumpane belehrten mich eines Anderen. Erst wenn ich mich für mindestens einen Monat ins Krankenhaus lege, die Pflegestufe 2 oder 3 beantrage und auch erhalte und einen Behindertenausweis zücken kann, bin ich chronisch krank.

Ich hasse Krankenhäuser und gehe freiwillig in keines. Behindert oder pflegebedürftig bin ich auch nicht. Und bis ich es werde, ist meine Diabetes eine Krankheit, die ich mir zu meinem Privatvergnügen halte.

Für unseren Hund muss ich schließlich auch eine Art Vergnügungssteuer bezahlen, weshalb dann nicht für die Diabetes? Aufs Jahr gesehen kommt sie mich immer noch billiger als der Hund. Anstatt über einen Zweithund nachzudenken, sollte ich mir vielleicht eine Zweitkrankheit zulegen.

„Ich bin doch krank“, jammert unsere Oma gelegentlich mitleidheischend, wenn ich nicht so springe, wie sie es gerne hätte.
„Du bist nicht krank. Du bist alt“, antworte ich.
„Unverschämtes Mensch!“ zischt sie dann und ist wütend.

Doch ich hatte schon immer Recht, wie die Gesundheitsreform nun bestätigt. Zwar muss Oma seit Jahren wegen einer Herzschwäche Medikamente schlucken und ist in Pflegestufe 3. Sie könnte sogar einen Behindertenausweis vorzeigen, wenn wir ihn denn hätten verlängern lassen.

Trotzdem muss auch sie 2% ihres Einkommens zuzahlen. Denn ihr fehlen die Krankenhausaufenthalte.
Also ist sie nicht soooo krank, nur leider kann ich ihr diese Beweisführung nicht unter die Nase reiben. Manchmal ist es nicht das Schlechteste, geistig nicht mehr ganz auf der Höhe zu sein und die reFormen unserer Regierung einfach ignorieren zu können.

 

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