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Schusswaffen sind weder Sportgeräte noch Spielzeuge

Die Geschichte scheint sich bestens für die Boulevardpresse zu eignen. In der idyllischen Provinz wird ein Ehepaar erschossen und der zweijährige Enkel verbringt zwei Tage im Haus mit seinen toten Großeltern, bis zufällig eine Nachbarin auf ihn aufmerksam wird. »Das ist für unsere Gegend hier etwas ganz abnormales. Einbrüche gab es hier schon einmal, aber Mord? Nein, das ist völlig abnormal«, zitiert die Lokalpresse einen entsetzten Anwohner.

»Hast du schon gehört, dass Dr. Grote ermordet worden ist?«, fragte mich eine Bekannte am Telefon und erzählte mir dann von dem Doppelmord. Ich war schockiert, ein viel gebrauchtes Wort meines Umfelds in den letzten Tagen, obwohl ich den Lehrer und Stadtrat nur dem Namen nach und aus politischen Zusammenhängen kannte. Von seinen privaten Verhältnissen hatte ich noch nie etwas gehört und so war mein erster Gedanke: »Nazis?« Wer sonst sollte denn einen Stadtrat der grün-alternativen Liste ermorden?

Dass ich anscheinend nicht als Einzige solche Vermutungen anstellte, zeigte sich am nächsten Tag. »Lokale Gerüchte, es gebe möglicherweise ein Motiv mit nationalsozialistischem Hintergrund sind hanebüchen und äußerst ärgerlich«, sagte ein Polizeisprecher und aus meiner Betroffenheit wurde kurzzeitig Wut. Hanebüchen?

Natürlich konnte ich mir vorstellen, wie sehr die Gerüchteküche in der Kleinstadt und der ganzen Region brodelte und wie hinderlich das für die Ermittlungen sein konnte. Doch wo lebte denn dieser Polizeisprecher? Und welchen Beruf hatte er? Zehn Jahre lang war der Nationalsozialistische Untergrund unbehelligt durch Deutschland gezogen und hatte Menschen ermordet. Nein, es war nicht hanebüchen, auch bei der Ermordung eines Stadtrates der grün-alternative Liste automatisch als Erstes an Nazis zu denken, sondern die normalste Sache der Welt. Wenigstens wenn man sich ein wenig mit den Vorgängen rund um den NSU Skandal beschäftigt hatte.

Inzwischen weiß man, es handelte sich um eine Beziehungstat, ein fürchterlicher Begriff, ähnlich wie Familiendrama, was in solchen Zusammenhängen auch gern genannt wird. Der frühere Lebensgefährte der Ehefrau, der nach zehn Jahren anscheinend plötzlich wieder aufgetaucht war. Ein Sportschütze, nach Medienberichten Mitglied in gleich zwei Schützenvereinen. Einer, der einen Waffenschein und mindestens sieben Schusswaffen nebst Munition besaß. Der Selbstmord beging, nachdem er das Kleinkind bei den toten Großeltern allein zurückgelassen hatte.

Eben ein frustrierter Mann, der legal im Besitz von Waffen war und richtig schießen gelernt hatte. Keine neue Geschichte, mal abgesehen davon, dass sie dieses Mal in der idyllischen Provinz passiert ist. Wann begreift man uns endlich, dass Schusswaffen weder Sportgeräte noch Spielzeuge sind, sondern Menschen töten?

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