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Stoibisch in Hinnedausch, Teil 1

Stoibisch in Hinnedausch schon mal gehört?

Nein? Macht nichts, die Liebste und ich wussten bis vor einigen Monaten auch nicht, dass es diesen Ort gibt:

315 zweibeinige EinwohnerInnen, dazu Kühe, Hühner, mindestens zwei Ziegen und ein ständig krähender Hahn. Zwei Kirchen, ein Briefkasten, ein Seniorenheim und eine Kneipe. Der Bäcker kommt mehrmals in der Woche direkt vor die Haustür gefahren, und die nette Briefträgerin nimmt die frankierte Post gleich mit. Eier, Milch, Kartoffeln und Gemüse gibt es ab Hof zu kaufen.

Kein Handyempfang und auch DSL wird nur in der eingeschränkten Variante, neudummdeutsch DSL light genannt, angeboten. Kühe pflegen selten mit Handy zu telefonieren und gehen auch nicht ins Internet, und zur Strafe darf die Landbevölkerung das dann auch nicht.

»Woooooooooohiiiin zieht ihr?« Diese Frage haben wir häufig gehört. Nämlich immer dann, wenn wir von unserem Umzug erzählt haben.

»Woooooooooo ist denn das?« Und als nächstes kam dann von netten Menschen: »Habt ihr euch das auch gut überlegt?«

Nicht so Nette fragten: »Spinnt ihr?« Oder sagten uns direkt ins Gesicht: »Ihr seid ja noch verrückter als es bisher schon den Anschein hatte!«

»Dort gibt weder Arzt noch Apotheke!«, sagte Einer und eine Andere meinte: »Keine Einkaufsmöglichkeit! Warum nicht gleich nach Sibirien?«

»Weil wir kein russisch sprechen«, antwortete ich. »Ansonsten wäre Sibirien sicher in die nähere Auswahl gekommen. Aber Schnee soll es in Stoibisch fast genauso viel geben.« Der nächste Winter kommt bestimmt, und ich werde sehen, ob ich damit recht behalte.

Besonders die Liebste hatte unter dem Unverständnis ihrer Umgebung zu leiden. In Kleinkleckersdorf geboren und aufgewachsen hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben in diesem Kaff verbracht. Es galt als ausgemachte Sache, dass ihr Leben auch dort beenden und dann auf dem Kleinkleckersdorfer Friedhof begraben werden wird. Umziehen ist was für Verrückte, Durchgeknallte, aber doch nichts für die Liebste, einer bodenständigen Kleinkleckersdorferin! Und dann noch so weit weg!

»Wo wirst du denn in Zukunft deinen Geburtstag feiern?«, fragte ein ihr nahestehender Herr. Und fügte gleich ungefragt hinzu: »Ich habe aber keine Zeit, euch beim Umzug zu helfen!« In unserer Planung war er gar nicht vorgesehen gewesen.

Seit Jahren hatten wir ihm und Allen, die es hören wollten, erzählt, dass wir umziehen werden. Wohin, das wussten wir selbst nicht so genau. Eine der Bedingungen war, so weit weg wie möglich von Kleinkleckersdorf. Eine andere Bedingung war: Wald. Richtig viel Wald. Keine dreieinhalbe kranke Tannen, die als Wald deklariert werden. Stoibisch in Hinnedausch liegt in einer Region, die zu 90 % aus Natur besteht. Mehr kann frau in Deutschland kaum erwarten.

Nach Omas Tod hatte ich schon angefangen, Kartons zu packen. Trotzdem ist aus dem kurz über lang ein ziemliches Lang geworden, bis wir endlich unseren Traum gefunden hatten.

Keine Nachbarn mehr über uns, die uns mit Polkatanzen und Möbelweitwurf auf Laminatboden ohne Trittschallschutz zum Wahnsinn trieben. Keine giftigen Friseurdämpfe mehr, die durch unsere Wohnung ziehen. Kein ohrenbetäubender Lärm von der Straße her, weil die Fenster den Schallschutzbestimmungen nicht entsprachen und ich gelegentlich das Gefühl bekam, die Lkws rasten direkt über meinen Schreibtisch. Keine horrenden Heizkosten mehr, weil die Heizungsrohre nicht isoliert sind, sich kein Heizkörper regulieren lässt und wir im Umlagesystem für unsere Nachbarn, die selbst an kühlen Junitagen die Heizung voll aufdrehen, mitbezahlen mussten.

»Wir ziehen ins Paradies«, meinte Liebste entzückt. Natürlich, zur Arbeit hat sie es nun weit. Aber für dieses kleine Paradies nimmt sie das gern in Kauf.

»Weißt du nicht, was Benzin heutzutage kostet?« fragte jener bereits erwähnte Herr. Klar weiß sie das. Sie weiß aber auch, dass lange Anfahrtswege zur Firma als selbstverständlich gelten. Und Eine, die im Norden Berlins lebt und im Süden arbeitet, ist mit der U-Bahn länger unterwegs als die Liebste auf der Bundesstraße.

Wie gesagt, der nächste Winter kommt bestimmt. Zur Zeit des Umzugs allerdings hatten wir Sommer und einen ziemlich Heißen noch dazu. »Was für eine Schnapsidee mitten im Hochsommer umzuziehen«, stöhnte eine unserer Helferinnen.

Gibt es eigentlich eine wirklich günstige Wetterlage zum Umziehen? Ist Renovieren und Möbelschleppen bei klirrender Kälte oder strömenden Regen angenehmer als bei Hitze und Sonnenschein?

»Ich bin froh, dass es so heiß ist«, behauptete die Liebste tapfer mit hochrotem Kopf und schweißgebadet. »Da trocknet wenigstens der Putz schneller!«

Genau, er trocknete sogar so schnell, dass die Pampe im Eimer nach einer halben Stunde hart wie Beton war und sich nicht mehr verstreichen ließ. Sie ließ sich auch nicht mehr aus dem Eimer lösen. »Du musst einfach schneller arbeiten«, verlangte ich von der Liebsten. »Fünf neue Eimer am Tag können wir uns nicht leisten!«

So eine Renovierung ist schließlich teuer und wir mussten sparen, wo es nur ging. Die Liebste nahm sich meine Mahnung zu Herzen und sparte gleich mal an den Tapeten. Das Zimmer ist 20 qm groß, eine Rolle Tapete 20 m lang, also reicht diese Rolle für die ganze Zimmerdecke. Es war Sonntag, der Baumarkt hatte geschlossen und so musste ein Teil der Zimmerdecke auf nächsten Tag warten.

»Nach dem Umzug üben wir Mathe«, sagte eine Freundin, die sich ihren neuen Spitznamen »Spachtel-Susi« hart erarbeitet hatte, und wollte schon mal wissen, wo sie dabei anfangen müsste. »Eins und eins?«

»Zwei!«, antwortete die Liebste wie aus der Pistole geschossen. Ganz so schlimm war es also doch noch nicht.

Mein Hang, alles wegzuschmeißen, was mir momentan als nicht mehr brauchbar erscheint, hatte in den letzten zwölf Jahren so manche Beziehungskrise ausgelöst.

»Da kann man doch noch mal verwenden«, schrie die Liebste mehrmals die Woche und rettete in letzter Sekunde einen Papierfetzen oder eine löchrige Unterhose vor dem Mülleimer. Unsere Wohnung war groß, da gab es viel Platz für Dieses und Jenes, das aufbewahrt und danach nie mehr angesehen wurde.

»Eines ist sicher«, sagte ich, als der Umzugstermin feststand. »Mit diesem ganzen Kruscht und Krempel ziehe ich nicht um.«

Bei manchen Dingen war die Sache eh klar. Bisher hatten wir eine Raumhöhe von 3,50 m und nun nur noch knapp über 2 m. Unsere Schränke durften schon mal nicht mit und unser merkwürdiges ererbtes Eheschlafzimmer und aus finanziellen Gründen damals dankbar angenommen wollten wir schon lange los werden. So meldeten wir das als erstes beim Sperrmüll an und entsorgten es samt Matratzen.

Danach schliefen wir sechs Wochen auf Isomatten. Und stellten am Ende der ersten Woche fest, wir hätten das Schlafzimmer vielleicht doch besser mit dem letzten Sperrmüll entsorgen sollen. Wir sind nicht mehr die Jüngsten und wochenlanges Schlafen auf dem Boden tat unseren Knochen nicht gut.

Der Hexenschuss, der mich beim Ablaugen der Treppenstufen ereilte, tat sein Übriges. Ich konnte mich kaum noch bewegen und jaulte bei jedem Schritt. »Das ist eine Warnung deines Unterbewusstseins«, meinte Spachtel-Susi. »Schalt einfach mal einen Gang zurück!«

Dazu hatte ich nun gar keine Zeit. Und wozu gibt es denn Medikamente? Der Cocktail aus Schmerztabletten und Muskelentspannungsmitteln wirkte Wunder. Andere kiffen oder saufen sich die Welt schön, ich nahm Tabletten und fand den Umzug nur noch lustig. Mich störte weder die Tatsache, dass die Tapeten in manchen Zimmern erst nach dem fünften Anstrich weiß werden wollten noch die Entscheidung der Liebsten, ihr Büro mit einem Gelbstich zu versehen.

»Da sieht man das Nikotin nicht so sehr«, meinte eine Frau und ich musste ihr recht geben. Nur die grüne Farbe an der Wand des künftigen Bücherlagers, die eine der Helferin an ihren Job als Altenpflegerin erinnerte, eine Mischung aus Kotze und anderen Exkrementen, erschien mir nun noch schlimmer als vorher. »Wenn dieser Raum nicht sofort gestrichen wird, dann « heulte ich bitterlich.

Die Liebste nahm mir die Tabletten weg. »Die teile ich dir ab sofort zu«, sagte sie energisch. »Du drehst ja total durch!«

Beleidigt und auf Entzug rächte ich mich am hochgewachsenen Unkraut im Garten. Ohne Gnade machte ich allem Grünzeug, das ich nicht identifizieren konnte und das betrifft circa 95 % der Botanik -, den Garaus, bis ich zufrieden auf fast kahle Beete blicken konnte, während drinnen die Liebste, Spachtel-Susi und deren Liebste ihrer und meiner Arbeit nachgingen.

»Buddel du nur«, sagte ich zum Hund und sah seelenruhig zu, wie das Loch im Rasen immer größer wurde. »Vielleicht schaffst du es ja bis Australien!«

Australien kam zwar nicht in Sicht, dafür aber eine überwucherte Steinterrasse. Die Liebste stöhnte nur. »Noch mehr Arbeit, jetzt müssen das auch noch frei legen!«

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