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Goldgelbes Blatt online

Früher einmal war der Spiegel das Blatt, das am Montag von politisch Interessierten gelesen wurde. Die Linken bis Linksliberalen lasen ihn, um informiert sein. Die Rechten bis Konservativen lasen ihn, weil sie wissen wollten, was der politische Feind so denkt und plant.

Jahrzehntelang war das so gewesen. Dann kam das Internet und mit ihm Spiegel Online und die wundersame Wandlung des einst so politisch korrekten Blattes. Neben der Politik flattern nun auch die unglaublichsten Geschichten aus aller Welt täglich frisch über den Bildschirm.

Jetzt muss ich nicht mehr zum Zahnarzt gehen, um aus den goldgelben Blättern zu erfahren, dass die Ehe von Sharon Stone an falsch zusammengelegten Pullovern scheiterte, und wann es der Torhüter der Nation mit welcher in der Disco getrieben hat. Es war doch immer ein wenig peinlich, zugeben zu müssen, woher ich dieses Wissen hatte. Spiegel Online hört sich einfach besser an als Spiegel der Frau.

Die Schlagzeile: »Verlassener Ehemann stürzt sich in Tigerkäfig!« wäre früher das Topthema der Bildzeitung gewesen. Heute finde ich sie bei Spiegel Online und weiß nun, dass Tiger Hühnerfleisch dem Fleisch verlassener Ehemänner eindeutig vorziehen. Wenigstens die Tiger im Hongkonger Zoo. Eine Erkenntnis, zu der ich als Nichtbildzeitungsleserin nie gelangt wäre und ohne die mir in meinem Leben vielleicht irgendwann einmal etwas fehlen würde.

Eine Bekannte meinte allerdings, diese Art der Berichterstattung sei kein neuer Stil des Spiegels. Schon früher habe er den Beinamen »Bildzeitung am Montag für Pseudointellektuelle« getragen und die meisten seiner Artikel gehörten damals wie heute als Lektüre ins Klo und sonst nirgendwo hin.

Vielleicht hat sie ja recht damit, doch meines Wissens werden noch keine Kloschüsseln mit eingebauten Internetzugang verkauft. Wenigstens nicht in Europa, bei den Japanern weiß frau ja nie. Aber vielleicht erfahre ich das auch eines Tages bei Spiegel Online.

Besonders gern lese ich die Berichte über die neuesten Studien aus der Welt der Wissenschaft. Es ist wirklich unglaublich, über was heutzutage alles geforscht wird und welche absonderlichen Alltäglichkeiten für eine Studie herhalten müssen. Die neuste Erkenntnis des Deutschen Institutes für Wirtschaft zum Beispiel: Männer verdienen bei gleicher Qualifikation pro Zentimeter Körpergröße 0,6% mehr als der kleinere Konkurrent.

Und dann dies: da hat doch eine weltbekannte Unternehmensberaterfirma für viele Millionen Euro Honorar erforscht, weshalb die Menschen so viel bei Aldi und Lidl und anderen Discountern einkaufen.

Ich meine, ich hätte das den Auftraggebern auch sagen können, sogar ganz ohne weiteren Aufwand. Und ich denke mal, ihr, die ihr das hier nun lest, hättet das auch gekonnt. Dazu bräuchtet ihr ebenso wie ich weder ein Schild Unternehmensberatung an der Haustür noch eine entsprechende Ausbildung.

Diejenigen unter euch, die wie ich und die Liebste mit den Office Programmen von Mikroschrott vertraut sind, hätten die Antwort sogar optisch wunderbar aufbereiten können. Im Grunde genommen aber hätte doch ein kurzes Öffnen des Portemonnaies oder eine Kopie der letzten Gehaltsabrechnung gereicht.

Weshalb wohl kaufen wir bei Aldi und Lidl ein? Wie weit ist es eigentlich mit diesem Land gekommen, dass es tatsächlich Idioten gibt, die für eine Antwort auf diese Frage Millionen bezahlen? Ich weiß nicht mehr, wer die Auftraggeber waren, aber meines Erachtens kann es sich dabei nur um Politiker oder artverwandte Realitätsignoranten gehandelt haben.

Nun denn, außer Aldi und Lidl tummeln sich auf diesem Sektor noch einige Menge anderer Firmen, z.B. die Drogeriediscounter. Analog zur Abnahme unserer persönlichen Geldmittel schießen sie wie die Pilze aus dem Boden und eröffnen praktisch in jedem Kuhdorf, in dem sich noch mehr als drei Einwohner das Zähneputzen leisten können, sprich nicht länger als ein Jahr arbeitslos sind, eine Filiale.

Einer dieser Discounter, die Firma Putziklecks, ist besonders berühmt berüchtigt für ihre aggressiven Marktstrategien. Die Angestellten verdienen gerade mal so viel, dass sie den Sozialhilfesatz um drei Cent überschreiten und somit wenigstens einmal im Jahr ein Stück Seife aus dem betriebseigenen Sortiment erwerben können. Wohlgemerkt, unter Ausschöpfung des kompletten Angestelltenrabatts für ein ganzes Jahr.

Die Filialen selbst sind winziger als unser Wohnzimmer und vollgestopft bis zur Decke. Klaustrophobiker und Dicke – ich zähle mich zu beiden Gruppen gehörig – müssen ebenso wie Hunde und Rollifahrerinnen draußen bleiben, weshalb weder unser Hund noch ich noch unsere Oma je einen solchen Laden betreten bzw. berollen.

Einzig die Liebste erfüllt sämtliche Anforderungen für einen dortigen Einkauf. Sie ist sowohl schlank als auch gelenkig genug, um sich durch engen Gänge zu schlängeln. Und dass sie nicht bellt und das Bein hebt, versteht sich hoffentlich von selbst.

Telefone gibt es in diesen Filialen ebenfalls nicht, weshalb sie ein beliebtes Ziel von Räubern sind. Dafür lassen sich ab und zu die Bezirkleiter angeblich in Regale einbauen. Nein, nicht um bei einem derartigen Überfall wie das Teufelchen aus der Kiste hilfreich hervorspringen zu können, sondern um unbemerkt ihre Mitarbeiterinnen zu überwachen. Ist doch bekannt, dass hungernde Angestellte ihre Gehälter manchmal in Naturalien den Tariflöhnen annähern wollen.

Wenn dabei der Service auf der Strecke bleibt, wird wohl niemanden außer den Auftraggebern für abstruse Studien verwundern. Sich zu wehren ist eigentlich zwecklos … ich erinnere wieder an die leeren Geldbeutel.

Und so kann es passieren, dass die Liebste bei Putziklecks einen Film abgibt, der auf CD gezogen werden soll. Die Fotos werden dringend für eine Einladung von Freundinnen gebraucht.

Die Verkäuferin muss eine heimliche Lesbe sein und sich in die Liebste verknallt haben, denn wider besseres Wissen verspricht sie einen Abholtermin innerhalb von fünf Tagen und bestellt meine Frau ab da täglich neu zum Abholen: »Morgen ist der Film bestimmt dabei!«

Ein Film, der wie sich später herausstellt nach fünf Tagen noch nicht einmal das Labor erreicht hat. Zehn Tage hin, zehn Tage entwickeln, zehn Tage zurück und zähneknirschend lassen wir das über uns ergehen.

Hat aber auch was Gutes, so kommen wir wieder zum Zahnarzt. Und in den Zeitungen dort steht wenigstens nichts über Studien.

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