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Süßer die Glocken nie klingen

Erst scheint es Einbildung zu sein. Dann merke ich, ich höre richtig. „Süßer die Glocken nie klingen!“ singt Oma aus vollem Hals, während ihre Vögel wild im Käfig herum flattern und empört kreischen.
Ich kann sie nur zu gut verstehen und kreische auch: „Hör auf zu singen!“ Nur das mit dem Flattern klappt bei mir nicht so gut.
Nun ist Oma beleidigt und zeigt auf den Fernseher: „Die singen doch auch Weihnachtslieder!“

Tatsächlich, in ihrem heißgeliebten Sportkanal läuft mal wieder eine Dauerwerbesendung und zwei hyperaktive Moderatoren empfehlen die schönste Musik für die bevorstehende Weihnachtszeit. Nebenbei, manchmal bin ich richtig neidisch und würde gern wissen, was die eigentlich schlucken, um so munter zu wirken. Das wäre vielleicht wirklich der Verkaufschlager für die bevorstehende Weihnachtszeit. Ich würde es sofort kaufen!

Aber davon abgesehen, wir haben gerade erst Mitte November. Weihnachten ist noch weit, wenigstens meiner Meinung nach. Die Werbeindustrie ist da anderer Meinung, anscheinend kann mensch nicht früh genug an Weihnachten denken.

„Wann kauft Ihr Weihnachtsgeschenke?“ fragt die Frau im Radio und teilt mit, dass es schließlich nur noch knapp sieben Wochen bis Weihnachten sind. Die zahlreichen AnruferInnen sind alle von der flinken Sorte und haben bereits seit Monaten ihre Weihnachtsgeschenke parat liegen. Einer fängt bereits im Januar an, Sonderangebote auf ihre Weihnachsttauglichkeit hin zu prüfen.

An der Pinwand hängen die Flyer von „Weihnachten im Schuhkarton“. Sie hängen da schon seit Wochen und geben keinen Mucks von sich. Doch nun stelle ich fest, der Abgabetermin ist in einer Woche. Wir haben weder einen Schuhkarton noch Geschenkpapier mit weihnachtlichen Motiven und noch etwas, um den Schuhkarton zu füllen. Nur einen Geldschein meiner Mutter, damit wir ihren Schuhkarton gleich mitpacken.

Also ab zum Einkaufen, wenigstens einmal im Jahr wollen wir auch andere an unserem Luxus teilhaben lassen. Die zwei Euro, die wir gestern in die Büchse zur Pflege der Kriegsgräber geworfen haben, zählen nicht. Sie galten mehr den bittenden Augen der kleinen Sammlerin als den toten Soldaten. Und die kleine Spende neulich für die Kinder in Beslan waren mehr eine Art Ablasshandel: „Lieber Gott, bitte keine Schulen bei uns in die Luft sprengen.“

Die Geschäfte in der Kreisstadt haben im Gegensatz zu uns längst geschnallt, dass Weihnachten vor der Tür steht. Bei Aldi sind die Adventskalender längst ausverkauft. Der Schnäppchenmarkt verkauft Tassen, Klopapier und Bonbons mit weihnachtlichen Motiven. Ob Bücher, Handys oder Zigaretten, alle Geschäfte sind bereits entsprechend dekoriert.
Selbst unser Lieblingströdler verschönert gerade sein Fenster mit Lichterketten und krabbelnden Nikoläusen. Und weil es gerade so praktisch ist, kaufen wir einen Weihnachtsbaumständer, den gibt es für einen Euro. Dabei wollten wir eigentlich nur den Stuhl mit dem Lederkissen.

Kuscheltier, Mütze, Schal, Handschuhe, Zahnbürste und Zahnpasta, was kann so ein kleines Kind noch alles brauchen? Und wie viel passt denn in so einen Karton? Und vor allen Dingen, wo gibt es einen Karton, ohne gleich die Schuhe dazu kaufen zu müssen? Waschlappen, Stifte, Schokolade … wir rennen von einem Geschäft zum anderen bis wir alles zusammen haben…

…sehr zum Missfallen einer Freundin. „Wisst ihr denn nicht, dass hinter dieser Schuhkartonweihnachtsaktion christliche Homophobe aus den USA stecken?“ fragt sie später stirnrunzelnd.
Wissen wir, stört uns aber nicht. Was will sie? Eine Grundsatzdiskussion über Straßenkinder in Moldawien und wer ihnen helfen darf? Denen wird es verdammt egal sein, ob Lesben, Schwule, Transsexuelle oder dumm-dumm-buschwählende Heteros ihre Päckchen gepackt haben.

Dieses Jahr tickt der Kalender für mein Gefühl gewaltig falsch. Der erste Advent ist bereits im November. Da Aldi keine Adventskalender mehr hat – wahrscheinlich gab’s die im September, schlagen wir bei Penny zu. Ganz schnell, bevor es dort auch keine mehr gibt. Einen für die Liebste, einen für Oma, einen für den Hund, einen für mich. Allerdings gibt es nur drei Motive. Zwei von uns werden sich ein Motiv teilen müssen, Streitereien an jedem Dezembermorgen scheinen vorprogrammiert. „Das ist aber meiner!“ Vielleicht sollten wir sie beschriften.

Die beiden Kinder, die mittlerweile erwachsen sind, bestehen auf ihrem Gewohnheitsrecht. „Wollt ihr dieses Jahr wieder einen Kalender mit Ü-Eiern?“ Blöde Frage, überflüssige Frage. Natürlich wollen sie. Sie werden diese Kalender auch noch mit achtzig wollen. Also steht die Liebste wieder mal im Supermarkt und schüttelt Ü-Eier aus. 48 Stück für zwei Kalender. Schließlich sollen wenigstens ein paar Figuren dabei sein. Sie ächzt und stöhnt und steht der anderen Kundschaft im Weg. Weshalb müssen diese Ü-Eier-Paletten auch immer im Kassenreich stehen?

Die Dauerberieslung mit Weihnachtsliedern hat Oma allmählich dahinter kommen lassen, dass Weihnachten naht. „Oma, wir haben erst November“, sage ich, aber sie glaubt mir kein Wort.
„Gibt es dieses Jahr keinen Adventskranz?“ nörgelt sie und schreibt mühsam auf: „Ich brauche Unterhosen und eine Uhr.“ Sie braucht weder das eine noch das andere, aber was soll man einer Frau in ihrem Alter sonst schenken?

Süßer die Glocken nie klingen, Hiiiiiiiilfe …

 

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