Ich bin alt, so schrecklich alt, Omas Alter ist nicht mehr weit von mir entfernt. Das mache ich nicht nur an meinen grauen Haaren fest, die kann ich ja färben und mir so beim Blick in den Spiegel eine andere Wirklichkeit vorgaukeln.
Auch die Tatsache, dass eine zwei Jahre jüngere Freundin vor Kurzem Großmutter geworden ist, habe ich noch einigermaßen gut verkraftet und meinen Kindern in einem ernsten Gespräch einfach das Kinderkriegen in den nächsten zwanzig Jahren untersagt.
Aber dann kam sie: achtzehn Jahre jung und fragte so Sachen wie: »Wie erkenne ich andere Lesbe? Wo kann ich eine Lesbe kennenlernen? Wie habt ihr euch kennengelernt? Wie lange seid ihr schon zusammen?«
Und wir erzählten und erzählten. Ich und die Liebste und die neuerdings großmuttrige Freundin und deren Liebste, die bisher immer die Jüngste in unserer Runde gewesen war. Wir schwelgten in Erinnerungen, ließen unser Coming Out wieder lebendig werden, berichteten von unseren ersten Zusammentreffen mit anderen Lesben. Wir erzählten von Büchern, Filmen und dem Lesbenfrühling.
Und sie? Sie hing an unseren Lippen und hörte uns zu. Als sie gegangen war, überfiel mich urplötzlich eine Art von lähmendem Rheumatismus, in den Knien, an der Zunge und im Gehirn. Still war es geworden, ganz still.
»Wisst ihr, wie wir uns aufgeführt haben?« frage ich nach einer Weile die anderen. Und gab die Antwort gleich selbst: »Wie jener berühmte Opa, der in unserer Jugend seine Enkel mit dem Krieg 1870/71 zu Tode langweilt!«
»Sie hat sich nicht gelangweilt!« behauptet die Liebste. Aber ich kann es ihr ansehen, auch sie ist während des Gesprächs um mindestens zehn Jahre gealtert. Ganz grau ist sie im Gesicht geworden, von ihren Haaren, die sie im Gegensatz zu mir nicht färbt, will ich erst gar nicht reden. Selbst die scheinen in den letzten drei Stunden noch mal um zwei Nuancen grauer geworden zu sein.
»Sie hat doch gefragt!« bekräftigt die Liebste der Großmutter und die Großmutter selbst nickt so heftig, dass ihr bestimmt das Gebiss herausgefallen wäre, wenn sie denn eines hätte. Nun, ihre Zähne scheinen noch ganz passabel, und ihre Haare schimmern dank Henna eher rötlich als grau, aber die Lesebrille, die an einer Kette über ihrem Busen baumelt, verrät sie. Das Gebiss ist nicht mehr in all zu weiter Ferne.
»Ob dieses junge Ding überhaupt sicher weiß, dass sie lesbisch ist?« frage ich giftig die anderen. »Wir haben das schließlich auch erst viel später gemerkt.«
»Die jungen Frauen haben es heutzutage eben viel einfacher. Sie haben Vorbilder, die wir nicht hatten!«
»Klar, die Jugend hat es immer einfacher!«
Wie schön, dass wir uns so einig sind. Das mit den Vorbildern trifft zwar den Nagel auf den Kopf, der Spruch mit der Jugend, die es einfacher hat, hätte aber auch von meiner Oma kommen können. Behauptet das nicht jede Generation von den Folgenden?
»Wisst ihr was? Wahrscheinlich ist sie gar nicht lesbisch!« meint plötzlich die Liebste und erinnert mich an einen Artikel bei Spiegel Online, den ich ihr vor einigen Tagen vorgelesen habe. Die junge Frau ist nämlich Nichtraucherin, ich wiederhole: Nichtraucherin! Und nach einer Studie des Bostoner Childrens Hospital rauchen vierzig Prozent der lesbischen Jugendlichen, während ihre heterosexuellen Altersgenossinnen nur zu sechs Prozent zum Glimmstängel greifen.
»Was soll denn das?« fragt die Liebste der Großmutter und steckt sich eine Zigarette an. »Das beweist doch gar nicht. Höchstens, dass die Heten besser lügen können als die Lesben! Viele Jugendliche wollen einfach nicht zugeben, dass sie rauchen.«
Meine Liebste hat eine ganz andere Vermutung. »Wahrscheinlich sind diese sechs Prozent rauchende Heteras in Wirklichkeit lesbisch und wissen es bloß noch nicht.«
Mich beschäftigt noch ein anderes Ergebnis dieser Studie: Merkwürdigerweise unterscheiden sich die schwulen und heterosexuellen Jugendlichen in dieser Beziehung nicht. Die anderen wundert das nicht. Schwule sind eben auch nur Männer, und diese laufen dem Zeitgeist wesentlich eilfertiger hinterher als Frauen. Und Nichtrauchen gilt seit einiger Zeit als schick.
»Wenn die Jungsche noch mal kommt, dann sagen wir ihr, sie soll eine rauchende Altersgenossin anbaggern!« meint die Großmutter und dann fällt ihr ein, dass vor einigen Jahren bei Spiegel Online schon einmal über so eine merkwürdige Studie berichtet wurde. Dabei ging es allerdings nicht den Rauch der Lesben, sondern um ihre Finger. Es dauert eine Weile, bis wir mit vereinter Anstrengung diese Theorie wieder zusammen bekommen. Wenn bei einer Frau der Zeigefinger länger als der Ringfinger ist, dann ist sie lesbisch. Warum will uns allerdings nicht mehr einfallen. Das hat wohl irgendetwas mit den Hormonen während der Schwangerschaft zu tun.
Schade, dass wir nicht daran gedacht haben, als die junge Frau noch da war. Wir hätten doch gleich mal ihre Finger nachmessen können! Obwohl, ich bin danach wohl auch nicht lesbisch. Wenn ich meine Finger genau ansehe, fällt auf, dass meine Zeigefinger kürzer als meine Ringfinger sind. Verstohlen verstecke ich meine Hände unter dem Tisch.
Die Liebste hingegen ist ihren Fingern nach lesbischer als lesbisch und grinst über das ganze Gesicht. »Ich geh auch mit einer Hete ins Bett«, sagt sie liebevoll zu mir. »Du brauchst deine Hände nicht zu verstecken«.
Glücklich hole ich sie wieder unter dem Tisch vor und zünde mir eine Zigarette an. Zeige- und Ringfinger der Liebsten der Großmutter scheinen gleich lang zu sein. Wir messen mit einem Lineal nach und der optische Eindruck bestätigt sich.
»Hör mal«, meint die Großmutter entrüstet, »ich habe dir doch von Anfang an gesagt: no bi!«
Um die Fingerlänge der Großmutter messen zu können, müssten wir ihr erst die Nägel schneiden. Sie wehrt sich heftig dagegen und angesichts des Schocks, unter dem sie immer noch leidet, lassen wir sie in Ruhe. Die nächsten drei Jahre oder bis zum Enkelkind Nummer zwei hat sie Narrenfreiheit.