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Begegnung mit einer unheimlichen Art

So manche Hausfrau soll angeblich stolz darauf sein, dass man bei ihr vom Boden essen könnte. Nun, die Liebste und ich sind stolz darauf, dass bei uns niemand vom Boden essen muss. Nicht einmal »man«. Bei uns dürfen sich alle an einen Tisch setzen und bekommen sogar einen Teller. Wir sind uns darin einig, die Hausarbeit auf das Nötigste zu beschränken, und können seelenruhig dabei zusehen, wie sich das Geschirr in unserer Küche bis an die Decke stapelt und dort ein Stelldichein mit den Spinnweben hält. Solange wir noch eine saubere Tasse im Schrank haben, geht das in Ordnung. Hundehaare, Körbe voll Bügelwäsche? Na und? Und der Mülleimer gilt auch erst dann als voll, wenn er Anstalten macht, sich selbst zu entsorgen.

Ein wenig peinlich wird das immer nur, wenn wir überraschend Besuch bekommen wie jüngst an einem Samstag. Wir saßen gerade bei einem verspäteten Mittagessen und überlegten uns, ob wir nun etwas im Haushalt arbeiten oder lieber erst mal ein Schläfchen halten sollten, als es klingelte. Widerwillig ging die Liebste zur Tür, und ich rief ihr noch nach: »Lass ja niemanden rein!«

Erschrocken kam sie zurück und sah sich mit leicht wirrem Blick um. »Besuch für Oma«, zischte sie und begann hektisch, dreckiges Geschirr im Backofen zu verstauen.

»Besuch?« fragte ich verwundert zurück, sprang aber genauso hektisch auf und sperrte den Hund erst mal im Schlafzimmer ein. Glücklicherweise wohnen wir im zweiten Stock, und es dauert immer ein wenig bis BesucherInnen bei uns eintreffen. Auf der Treppe erschienen zwei ältere Menschen, Mann und Frau. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um Mutter (90) und Sohn (71).

Schnaufend stieg Mutter die letzten Stufen hoch, in der einen Hand ihr Handtäschchen, in der anderen einen Knirps alias Regenschirm, während Sohn direkt hinter ihr ging, um zu verhindern, dass sie die Treppen rückwärts wieder runterfiel.

»Wo ist Frau Oma?« schrie sie, stieß erst die Liebste, dann mich mit dem Knirps beiseite und stürmte in die Wohnung. Verblüfft starrten wir ihr nach und überhörten so, wie Sohn sich vorstellte.

»Wo ist Frau Oma?« brüllte Mutter wieder. »Diiiiie wird Augen machen! Diiiiie wird sich freuen!«

Währenddessen erklärte Sohn, dass Mutter eine Nachbarin von Oma in Ludwigshafen gewesen wäre und ihn schon seit Monaten plage, sie wolle endlich mal Frau Oma besuchen.

»Diiiie wird Augen machen«, wiederholte Mutter ununterbrochen und öffnete schon mal die Wohnzimmertür. »Ist sie da drin?«

Energisch schloss ich die Tür wieder und komplimentierte das Pärchen ins Esszimmer, während die Liebste zu Oma ins Zimmer ging und sie aus ihrem Mittagschlaf riss.

»Wollen Sie einen Kaffee?« fragte ich anstandshalber. Mutter wollte, Sohn hatte auch nichts dagegen und kommentarlos sahen sie zu, wie ich die Reste unseres unvollendeten Mittagessens abräumte.

»Das ist aber schön hier«, stellte Mutter dann fest und sah sich dabei prüfend um. »Sind Sie ein privates Heim? Was kostet denn das hier? Wissen Sie, ich könnte mir das nicht leisten. Ich habe so eine kleine Rente, gerade mal 1300 Mark. Mein Mann war eben ein einfacher Arbeiter. So ein schönes Heim wie hier könnte ich mir nicht leisten. Aber Frau Oma hat ja eine viel bessere Rente. Obwohl ihr Mann ja nicht viel getaugt hat, Musiker, die arbeiten doch nichts.«

Vergeblich versuchte ich, sie über ihren Irrtum aufzuklären, während ich die Kaffeetassen hinstellte. Und die Charakterisierung meines Großvaters gefiel mir auch nicht besonders. Mutter hörte mir gar nicht zu, und ließ sich auch von Sohn nicht unterbrechen. Sein: »Mamme, heer doch emol, was die Fraa saache will!« nahm sie nicht zur Kenntnis. Ohne Unterlass redete sie weiter.

Wie sehr sich Frau Oma doch freuen würde, welche schöne Wohnung sie doch gehabt hatte, dass die Nachbarin von oben mittlerweile wegen der Katzen gekündigt worden sein und niemand mehr den Garten mache. Und übrigens, wie das denn so sein, Frau Oma habe immer gesagt, sie könne ihre Kleider haben, wenn sie mal sterbe. Ob das noch gelte, oder ob ich die Kleider haben wollte? Die Frau Sowieso sei ja mittlerweile gestorben und die Frau Sosowie ja auch, aber bei deren Beerdigung seien nicht gerade viele Menschen gewesen. Sie trank einen Schluck Kaffee.

Sohn nutzte die Gelegenheit und kläre mich darüber auf, dass seine Frau auch gestorben sei, an einem Gehirntumor, und beschrieb mir in allen Einzelheiten die letzte Operation an seiner Frau, die leider nichts mehr geholfen habe.

Göttin sei Dank schob nun die Liebste Oma im Rollstuhl herein. Mutter stand auf und schrie: »Frau Oma, was für eine Freude, Sie zu sehen. Gell, da gucken Sie. Kennen Sie mich noch? Ach, wie ist das schön.«

Oma lächelte freundlich. Es war ihr anzusehen, dass sie keine Ahnung hatte, wer Mutter und Sohn waren. Während Mutter nun Oma über die Veränderungen in der alten Nachbarschaft informierte und an angeblich gemeinsame Zeiten erinnerte, versuchten wir, den Sohn darüber aufzuklären, dass wir kein Altersheim sind. Umsonst, aber er revanchierte sich mit Horrorgeschichten über das langsame Sterben seiner Frau.

Nach einer Weile hatte Mutter begriffen, dass Oma sich weder an sie erinnern konnte noch erfreut über ihren Besuch war. Das mahnte sie allerdings nicht zum Aufbruch, sondern nun wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Liebsten und mir zu.

Im Detail klärte sie uns über ihre finanziellen Verhältnisse auf. Wie viel Miete, Wasser und Strom sie zahlte, erzählte von dem kürzlichen Ausbau der Öfen in ihrer Wohnung und dem Theater, bis diese Öfen endlich entsorgt waren. Wir erfuhren, dass der Hausmeister der Wohnanlage ein Schlamper sei, und früher überhaupt alles vieles besser gewesen wäre.

Jedes Mal, wenn sie Luft holte oder einen Schluck Kaffee trank, mischte sich Sohn ein und lieferte uns einen detaillierten Lebenslauf von seiner frühsten Kindheit bis heute. Er war Angestellter bei Stadt gewesen, jetzt natürlich in Rente, lebte in X, nachdem er lange Jahre in Y gewohnt hatte. Sein Schwager arbeitete auch bei der Stadt und kam manchmal abends auf ein Bier vorbei.

Die Liebste und ich grinsten uns immer unverhohlener an und rollten mit den Augen. Oma gähnte einige Male herzhaft und machte mehr als deutlich, dass sie wieder in ihr Bett wollte. Mutter und Sohn störte das nicht im geringsten. Zu sehr waren sie damit beschäftigt, uns ihr ganzes Leben zu erzählen. Und das ihrer Verwandtschaft. Die Tochter und Schwester von Mutter und Sohn war laut Mutter ziemlich dick und faul. Das kam daher, weil sie den ganzen Tag mit der Nachbarin zusammensaß, Likörchen trank und Zigaretten rauchte.

Sohn verteidigte seine Schwester, schließlich sei sie als Bankangestellte bereits zweimal überfallen worden und der 11. September habe ihr den Rest gegeben. Er zeigte auf die Liebste. »Sie als Therapeutin werden das bestimmt verstehen.«

Mutter wiegelte empört ab. »11. September, 11. September, da waren wir gerade auf einem Ausflug mit der Kirchengemeinde. Wir haben gebetet und ein Lied gesungen und dann war die Sache erledigt. Das ist doch nur eine dumme Ausrede.«

Sohn zeigte wieder auf die Liebste. »Mamme, die Frau ist Psychologin. Die wird das schon besser als du verstehen. Du hältst immer zu den Falschen«, und begann aufzuzählen, wann Mutter wen bevorzugt hatte.

Die Liebste und ich hatten schon längst aufgegeben. Wir machten keinen Versuch mehr, die Beiden darüber aufzuklären, dass die Liebste weder Therapeutin noch Psychologin von Beruf ist und wir überhaupt kein Altersheim waren. Stattdessen versuchten wir langsam aber sicher, Mutter und Sohn wieder aus der Wohnung zu bekommen. Wir erklärten, dass Oma sehr müde sei und dringend ihren Schlaf brauchte.

Mutter kramte aus dem Handtäschchen ein Passbild von sich hervor und schrieb ihre Telefonnummer auf. Wegen der Kleider. Sohn erzählte uns, dass er als Jugendlicher erst ein Fahrrad zum Transportieren eines Sauerkrautfass gehabt habe, dann einen Motorroller, dann einen Prinz und noch einen Prinz und heute einen Opel xyz fahre. Allerdings kaufe er immer Jahreswagen und finanziere sie über die Bankkasse von Hintertupfingen. Zum krönenden Abschluss zog er noch seine Hosenbeine hoch und zeigte uns seine behaarten Waden und die Socken, die seine Frau noch kurz vor ihrem Tod gestrickt hatte.

Oma behauptete später, diese Menschen noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben. Auch weitere Nachforschungen in der Verwandtschaft blieben erfolglos. Wir wissen bis heute weder den Namen unseres Besuchs noch woher sie unsere Adresse hatten. Sachdienliche Hinweise nehmen wir gern entgegen.

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