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Über einen Bäckerwagen und das Sterben des Ländlichen Raums

Seit wir in Hinnedausch wohnen, also seit inzwischen beinah dreizehn Jahren, verliefen unsere Samstage immer ähnlich. Zumindest die Vormittage. Gegen halb neun fuhr der hupende Bäckerwagen in den Hof. Wir kauften verschiedene Brötchen, Brot und Brezeln, und manchmal auch Hefezopf, Kuchen oder Nudeln. Danach frühstückten wir in aller Gemütlichkeit, lange und ausgiebig. Das konnte sich schon mal bis zum Mittag hinziehen.

Gefahren wurde der Bäckerwagen von zwei Frauen, die dann auch die Backwaren verkauften. Sie wechselten sich wochenweise ab und wurden von uns »die Alte« und »die Junge« genannt. Aus vollkommen unerfindlichen Gründen sind wir in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, uns einmal nach ihren Namen zu erkundigen.

Das Warenangebot der Beiden war leicht unterschiedlich. Die Eine brachte Torten mit, die Andere Streuselkuchen. Sahen wir vom Fenster aus den Bäckerwagen mit Karacho in den Hof fahren und eine Runde drehen, wussten wir: Es ist »die Junge«. Heute gibt’s Schokobananen. Blieb er hingegen in der Einfahrt stehen, um später rückwärts wieder wegzufahren, hatte »die Alte« Dienst und Schokocroissants mitgebracht.

Anfang des Monats versetzte uns »die Junge« dann einen Schock. »Heute war das letzte Mal«, sagte sie. Ihre Kollegin, eigentlich schon längst in Rente, wollte nun endgültig nicht mehr jeden zweiten Samstagmorgen stundenlang über die Dörfer fahren. Einen Ersatz hätte man trotz intensiver Suche nicht finden können, weshalb der Service des Bäckerwagens nun eingestellt werden müsste.

Von den vielen bäuerlichen Betrieben, die heutzutage nicht mehr »übergeben« werden können, wird man wahrscheinlich selbst in Städten schon gehört haben. Genau wie von den geschlossenen Arztpraxen im ländlichen Raum, weil sich keine Nachfolger_innen finden lassen. Am Dreikönigstag standen nicht mehr wie in unseren Anfangsjahren fünfzehn Sternsinger_innen vor der Tür, sondern nur noch vier.

Anfang des Jahres stellte nicht nur der Bäckerwagen seinen Betrieb ein, sogar die katholische Kirche am Ort musste massive Einschränkungen bei den Gottesdiensten bekanntgeben. Obwohl 90% der Bevölkerung hier katholisch ist und die Meisten von ihnen sicher das, was »gut katholisch« genannt wird, lassen sich weder Messner noch Reinigungskräfte finden. Ein Problem mit Auswirkungen auf den Tourismus, denn die St. Martinskapelle aus dem Jahr 1494 gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend.

Wie alle anderen im Dorf waren wir entsetzt, dass der Bäckerwagen nicht mehr kommen sollte. Der Liebsten und mir ging es allerdings nicht nur um das liebgewonnene Ritual des Frühstücks, mit dem wir die Wochenenden begannen. Für uns bedeutete der Bäckerwagen wesentlich mehr als Brötchen und Brot.

Auch nach dreizehn Jahren sind wir immer noch Zugezogene. Zwar gut integriert, wesentlich besser, als wir es vor dem Umzug je für möglich gehalten hätten. Doch wir teilen uns weder mit ungefähr der Hälfte unserer Nachbar_innen den Genpool, noch kennen wir die andere Hälfte bereits seit der Geburt oder sind mit ihr zur Schule gegangen. Runde Geburtstage und andere Jubiläen gehören nicht zu unserem Allgemeinwissen, wir müssen nachfragen oder darauf aufmerksam gemacht werden. Wenn zu einer ungewohnten Zeit die Kirchenglocken läuten, sind wir weit und breit wahrscheinlich die Einzigen, die keine Ahnung haben, warum.

Der Bäckerwagen war Infozentrale wie Klatsch- und Tratschbörse gleichzeitig. Gratis zu den Brötchen gab es noch einen brandaktuellen Verkehrs- und Straßenzustandsbericht, was sich gerade im Winter manches Mal als sehr praktisch erwies. Wir bestellten dort beim Nachbarn Holz, tauschten Sperrmüllmarken mit seiner Schwägerin und erfuhren endlich, weshalb zwei Nächte davor die Sirene geheult hatte.

Ja, bei uns heult noch eine Sirene, anderswo ist das fürchterliche Geräusch längst abgeschafft. Eine Benachrichtigung der freiwilligen Feuerwehr per SMS ist in einem Funkloch nun mal ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mobilfunkstandard 5G an jeder Milchkanne sei überflüssig, meinte neulich eine Bundesministerin. Mit Milchkanne hat sie sicher auch Dörfer wie das Unsere gemeint. Dabei könnte sie uns schon mit 3G richtig glücklich und zufrieden machen, so bescheiden wie wir sind. Obwohl, ein klitzekleines Bisschen Öffentlicher Nahverkehr stünde auch noch auf unserer Wunschliste.

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