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Grenzerfahrungen

Vor ungefähr neun Jahren habe ich über meine Grenzerfahrungen geschrieben. Anlass muss wohl eine Bemerkung von Erika Steinbach gewesen sein, wirklich erinnern kann ich mich aber nicht. Der Text endete mit den Sätzen:

»Und meinen Enkelkindern wird wahrscheinlich kaum noch begreiflich zu machen sein, wie kompliziert es einst mit Böhmen und der Tschechoslowakei, mit Oberschlesien und Polen, mit dem Elsass und Frankreich und dem russischen Kannibalen einmal gewesen war. Ich hoffe es wenigstens! Und bin ganz optimistisch, dass es auch so sein wird. Vorausgesetzt, Menschen wie Erika Steinbach halten endlich ihre Klappe!«

Heute, neun Jahre später, sind die damals noch fiktiven Enkelkinder geboren. Erika Steinbach taucht nur noch selten in der Öffentlichkeit auf. Trotzdem habe ich meinen Optimismus verloren. Inzwischen befürchte ich, meine Enkel werden ähnliche Grenzerfahrungen wie ich machen. Oder sogar noch wirklich Schlimme. Das Gift, das die Erikas Steinbachs Europas über viele Jahre verspritzt haben, zeigt Wirkung: Grenzen werden wieder geschlossen. Dabei waren wir doch auf einem so gutem Weg gewesen.

Grenzerfahrungen

Die Mutter meiner Mutter hieß »Altriper Oma«. Selbstverständlich, weil sie in Altrip wohnte. Jenem kleinen Dorf auf der linken Rheinseite, gleich gegenüber des Mannheimer Stadtteils Rheinau.

Meine Oma hasste diese Titulierung. Denn eigentlich kam sie aus Mannheim-Neckarau, wie sie bei jeder passenden und auch unpassenden Gelegenheit noch im hohen Alter betonte. Der Titel »Neckarauer Oma« jedoch war bereits an meine Urgroßmutter vergeben. An die Mutter der Altriper Oma. Dabei stammte sie gar nicht aus Neckarau, noch nicht einmal aus Mannheim, Ludwigshafen oder der näheren Umgebung. Sie war erst 1903 zusammen mit ihrem Mann aus Böhmen eingewandert.

»In Mannheim soll es Arbeit geben«, hatte es damals geheißen, und so machte sich beinah die halbe Dorfjugend auf den Weg nach Mannheim. Die andere Hälfte ging nach Wien. Dort gäbe es auch Arbeit, hatte eine meiner Urgroßtanten gemeint. Und im Gegensatz zu diesem Mannheim, von dem man gar nicht so richtig wusste, wo es überhaupt lag und wie es dort zuging, war Wien als Hauptstadt der KuK Monarchie ein vertrauter Begriff.

Die Böhmer_innen haben sich in Mannheim dennoch schnell zurechtgefunden und vergaßen mit der Zeit sogar, dass sie eigentlich Zugewanderte waren. Erst als am Ende seiner Schulzeit das tschechoslowakische Militär Anspruch auf meinen Großonkel erhob, machten meine Urgroßeltern Nägel mit Köpfen und verlangten einen deutschen Pass. Im Grunde genommen hätte ihnen ein rein Mannheimer Pass vollkommen gereicht, denn als Staat war Deutschland für sie eben so abstrakt wie die neugegründete Tschechoslowakische Republik oder dieses Österreich – politische Absonderlichkeiten, die ihnen unverständlich blieben und bewirkten, dass Familie und Verwandtschaft nach 1918 nun in drei verschiedenen europäischen Staaten lebten.

Die Altriper Oma hatte es einfacher als ihr älterer Bruder. Für eine Frau interessierte sich kein Militär, ob deutsch oder tschechoslowakisch. Als junge Frau lernte sie den Altriper Opa kennen, heiratete hinüber auf die andere Rheinseite und wurde somit automatisch Deutsche. Sie wohnte in Altrip und arbeitete weiter in Neckarau. Sie bekam zwei Töchter, die sie ganz selbstverständlich in Neckarau zur Welt brachte, und nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges ging sie mit ihren Töchtern und ihrer Schwester und deren Kinder ins Elsass.

Für sie war das Elsass nichts anderes als Böhmen. Dort wurde deutsch gesprochen, und dass das eine bis zum Einmarsch der Deutschen zu Frankreich und das andere zur Tschechoslowakei gehört hatte, hat sie meiner Meinung nach nie wirklich in ihrem Innersten realisiert – obwohl sie für ihre Generation und Herkunft eine sehr politisch denkende Frau gewesen war.

Die Mutter meines Vaters war die Rheinauer Oma. Eben weil sie auf der Rheinau wohnte. Während des Zweiten Weltkrieges hatte es die Familie nach Oberschlesien verschlagen. Nach der Flucht fand sie für einige Zeit Unterschlupf in der leer stehenden Wohnung einer Ludwigshafener Verwandten. Als diese selbst wieder dort einziehen wollte, machte man sich auf nach Mannheim. Ludwigshafen war französische Zone und Mannheim gehörte den Amerikanern. Einfach so mal die Rheinseiten zu wechseln, schien fast unmöglich.

Meine Oma durfte mit meiner schwerbehinderten Tante über die Brücke gehen. Aus Mitleid mit der Spastikerin, die sich so komisch bewegte und seltsame Laute von sich gab. Die anderen mussten bleiben. Nach kurzer Beratung kniffen sie meine damals acht Monate alte Cousine. Sie war ein geduldiges Kind und fing erst nach dem dritten oder vierten heftigen Kneifen an zu schreien. Dann allerdings aus vollem Hals. Was denn das Kind habe, wollten die Soldaten wissen.

Hunger. Und warum es nichts zu essen bekomme? Weil das Essen mit der Oma und der behinderten Tante inzwischen den Rhein überquert hatte, behauptete die Familie und durfte nun folgen.

Die Altriper Oma hatte mit ihren Töchtern das Elsass verlassen und wollte zurück nach Mannheim. Auch sie wurden auf der linken Rheinseite angehalten und dass meine Oma in ihrem Gepäck ganz oben auf unbekümmert ihren sogenannten Damenrevolver mit dem Elfenbeingriff gelegt hatte, machte die Grenzüberschreitung noch komplizierter als bei der Familie meines Vaters.

Die Jahre vergingen. Meine Eltern lernten sich kennen, heirateten und 1956 kam ich zur Welt. Die Rheinauer Oma jammerte immer noch über die Rippchen, die bei der Flucht aus Oberschlesien im Küchenschrank vergessen worden waren.

»Die Polen haben sie bestimmt gegessen«, erzählte sie mir immer wieder empört. Ich fand das ebenfalls sehr unverschämt und beschloss, als Erwachsene nach Polen zu fahren und die Herausgabe der Rippchen zu verlangen.

»Das geht nicht so einfach«, klärte mich meine Oma auf. »Dafür braucht man nun ein Visum. Weil der Russe niemanden reinlässt zu den Polen.«

Ich war verwirrt. Warum hatte meine im breitesten Mannheimer Dialekt sprechende Oma eigentlich in Polen gelebt. Und was machte der Russe dort? Was war denn ein Visum? Und warum fielen die Begriffe Russe und Visum auch immer wieder, wenn bei der Altriper Oma von der böhmischen Verwandtschaft die Rede war? War Böhmen auch in Polen?

»Nein, das liegt in der Tschechei«, sagte jemand und ein anderer korrigierte: »Das heißt Tschechoslowakei.« Nicht gerade eine Information, die diese komplizierte Angelegenheit für mich erklärbarer machte.

Als ich in der zweiten Klasse war, hieß es eines Tages: »Heute fahren wir ins Elsass.«

»Ist dort auch der Russe?« wollte ich wissen. Der schien ja überall dort zu sein, wo meine Familie früher gelebt hatte.

»Nein, dort ist kein Russe. Das Elsass gehört jetzt zu Frankreich.«

»Dann will ich da nicht hin, ich verstehe dann ja kein Wort.«

»Die Leute dort sprechen deutsch«, war eine Antwort, die mich erneut in große Verwirrung stürzte. An der Grenze jedoch standen Zöllner, die nur gebrochen deutsch sprachen. »Grün Kaddde?« wollte man wissen.

Ich war mir sicher, dass meine Eltern sich irrten. Früher da mochten die Leute im Elsass mal deutsch gesprochen haben. Aber eine geheimnisvolle Macht hatte daraus unverständliches Kauderwelsch gemacht. »Die grün Kadde« war zu Hause im anderen Anzug meines Vaters. Wenigstens schien er das Kauderwelsch zu verstehen. Wir mussten umkehren und nahmen am nächsten Tag einen neuen Anlauf.

Mich wunderte das nicht. Mit Grenzen hatte ich bereits Erfahrung. Erst im Jahr davor waren wir in einem Land gewesen, das Holland hieß und wo es riesige Lutscher, Kaffee, Käse und Schinken gab. »Den Schinken dürfen Sie nicht mit nach Deutschland nehmen«, hatte ein uniformierter Mann an der Grenze gesagt.

Mein Vater fuhr zurück bis zum nächsten Parkplatz. Ich musste mich auf den Schinken setzen, was äußerst unbequem war. »Du hältst den Mund!« wurde mir befohlen. Und ich bekam noch einen zweiten Lutscher. Danach durfte der Schinken doch nach Deutschland ebenso wie der Kaffee, auf dem mein Bruder saß.

Die Leute im Elsass sprachen allerdings dann doch deutsch. Und in den nächsten Jahren verbrachte ich bei ihnen oft einen Teil meiner Sommerferien. Bei Freund_innen der Altriper Oma. Ich war gerne dort. Warum allerdings die Reise an der Grenze jedes Mal eine Geduldsprobe war und wir auch immer die grüne Versicherungskarte dabei haben mussten, begriff ich einfach nicht. Weshalb waren Lucille und Chantal, zwei Mädchen in meinem Alter, Französinnen und ich Deutsche?

»Weil Colmar in Frankreich liegt und Mannheim in Deutschland. Wir sind Ausland füreinander. Wenn ein Land aufhört und ein neues anfängt, dann gibt es eben eine Grenze. Wenn du groß bist, wirst du es besser verstehen.«

Ich bildete mir allerdings ein, es bereits verstanden zu haben. und als ich zufällig ein Gespräch belauschte, in dem von einer Reise nach Berlin und gleich zwei Grenzen die Rede war, war die Sache klar. Berlin war im Ausland. Im ziemlich weit entfernten Ausland, wenn man auf dem Weg dorthin zwei Grenzen passieren musste. In der dritten Klasse fühlte ich mich verpflichtet, meine Lehrerin darüber aufzuklären, als sie meinte, Berlin liege in Deutschland. Ihre Reaktion verblüffte mich.

»Berlin ist die deutsche Reichshauptstadt!« schrie sie wie am Spieß und bekam einen knallroten Kopf.

»Aber die Grenzen «

»Das sind deutsche Grenzen! Das ist Deutschland! Das hat uns der Russe geklaut!«

Ich begann, mich vor diesem Russen zu fürchten und hoffte, dass er nicht eines Tages kommen und uns Mannheim klauen würde. Und ich dachte oft darüber nach, wie ein einzelner Mann Polen, die Tschechoslowakei und halb Deutschland in Schach halten konnte. Wahrscheinlich war er ungeheuer groß, hatte Bärenkräfte und ernährte sich von Menschenfleisch.

Jahrzehnte später hatte ich die Sache mit den Grenzen einigermaßen begriffen, ganz wie es mir die Erwachsenen in meiner Kindheit vorausgesagt hatten. Ich hatte inzwischen Italiener_innen, Griech_innen, Türk_innen und noch so manche andere Nationalität kennengelernt. Alle waren sie wie einst meine Urgroßeltern nach Mannheim gekommen, weil es dort Arbeit gab. Und wie meine Urgroßmutter ihren Mannheimern Nachbarn die böhmische Küche und allem voran die Knödel schmackhaft gemacht hatte, brachten diese Leute mich auf den Geschmack von Pizza, Souflaki und Döner.

Meine Tochter war sieben Jahre alt, als sie eines Tages ihren Kinderausweis entdeckte. »Was ist das?«

»Ein Ausweis«

»Wozu braucht man den?«

»Um ins Ausland zu fahren. Man muss ihn an einer Grenze vorzeigen.«

Danach bestand sie darauf, umgehend ins Ausland zu fahren, damit sie ihren Ausweis vorzeigen konnte. Ich wollte ihr den Gefallen tun und wir fuhren ins Elsass. Bei Karlsruhe machten wir den ersten Versuch, die Grenze zu überqueren. Das Zollhäuschen war unbesetzt, ebenso beim zweiten und dritten Grenzübergang. Beim Vierten hing wenigstens ein Schild. »Wenn Sie etwas zu verzollen haben, nutzen Sie bitte den Grenzübergang xxx«.

Das Gesicht meiner Tochter wurde immer länger. Sie hielt den Kinderausweis in ihrer Hand und wollte ihn endlich jemand zeigen. Es war kalt und regnerisch. Auch am Grenzübergang xxx war kein Mensch zu sehen, allerdings brannte in dem kleinem Häuschen Licht. Wir gingen hinein.

»Wir wollen über die Grenze«, erklärte ich. »Meine Tochter will Ihnen ihren Ausweis zeigen«

Verständnislose Gesichter uniformierter Menschen. »Warum?«

Einst hatten die Erwachsenen vergeblich versucht, mir zu erklären, weshalb es Grenzen gibt. Und nun versuchte ich, meiner Tochter zu erklären, weshalb viele Grenzen niemanden mehr interessieren. Und meinen Enkelkindern wird wahrscheinlich kaum noch begreiflich zu machen sein, wie kompliziert es einst mit Böhmen und der Tschechoslowakei, mit Oberschlesien und Polen, mit dem Elsass und Frankreich und dem russischen Kannibalen einmal gewesen war.

Ich hoffe es wenigstens! Und bin ganz optimistisch, dass es auch so sein wird. Vorausgesetzt, Menschen wie Erika Steinbach halten endlich ihre Klappe!

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