Sechs von zehn heterosexuellen BundesbürgerInnen glauben zu wissen, wie eine Lesbe aussieht: nämlich wie Hella von Sinnen. Drei glauben, eine Lesbe sehe aus wie Cornelia Scheel und der Rest hat wie bei allen so ungeheuer lebenswichtigen Fragen keine Meinung dazu.
Mir kommt das manchmal gelegen, denn eines habe ich mit Hella gemeinsam: Ich bin dick. Blond bin ich nicht, aber auf dem besten Weg, das zu ändern. Irgendwie muss den grauen Haaren ja beizukommen sein.
Nun glauben jene BundesbürgerInnen allerdings auch, dass Lesben nicht nur aussehen wie Hella von Sinnen und Cornelia Scheel, sondern auch sich so benehmen müssen. Und das kommt mir nun gar nicht gelegen. Denn im Gegensatz zu Hella will mir nicht bei jedem zweiten Satz was Witziges einfallen. Mir fällt noch nicht mal bei jedem dritten Satz was Witziges ein.
Also bin ich für manche Leute, die zunächst hofften, mit mir ihr notwendiges Maß an Toleranz und Exotik in ihrem Bekanntenkreis politisch korrekt erfüllen zu können, schon nach den ersten vier Sätzen eine leichte Enttäuschung. Noch enttäuschter sind sie, wenn sie erfahren, dass ich zwei Kinder habe. Nicht wegen der Kinder persönlich, um Himmels willen, nein, aber eine dicke, fast blonde Lesbe und dann zwei erwachsene Kinder, die noch nicht einmal aus der Lieferung einer holländischen Samenbank stammen????
Die Tatsache, dass von mir schon mal ein ganzes Buch veröffentlicht worden ist, lässt mich in der Exotik- und Toleranzskala neuerdings wieder einige Punkte ansteigen. Autorin, lesbisch, dick und fast blond, das macht schon was her.
Die Pflege meiner Großmutter bringt mir bei manchen wieder Minuspunkte ein. Bei anderen allerdings auch Pluspunkte. Da wird es dann noch ausdrücklich hervorgehoben. Wie Lieschen Müller pflegt die lesbische dicke fast blonde Autorin ihre Großmutter. Sie ist ja BEINAHE so normal wie Du und ich. Sie wischt sogar das Treppenhaus und putzt das Klo. Behauptet sie wenigstens. Alle Achtung! Kaum zu glauben, wie normal Lesben sein können.
Hat die Bekanntschaft einen gewissen Grad erreicht, und mensch wird mal bei uns eingeladen, folgt das nächste ungläubige Staunen. Auch die Wohnung der Lesben scheint sich kaum von denen der Heten zu unterscheiden. Na ja, ein bisschen groß ist sie ja schon für die beiden Lesben und die alte Großmutter. So eine Wohnung wäre doch eigentlich viel geeigneter für eine Familie mit Kindern. Und also wirklich, allein die Terrasse ist so groß wie bei anderen die ganze Wohnung!
Aber sonst? Die Lesben haben eine Küche. Die Lesben haben ein Bad. Vielleicht ein bisschen zu viele Bücher und Bilder und Fotos und Pflanzen. Sie haben ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Esszimmer. Und die Oma hat natürlich auch ein Zimmer.
Aber haben sie auch ein Schlafzimmer? Scheint so, denn eine Tür bleibt bei der Besichtigung zu. Einmal das Schlafzimmer einer lesbischen dicken fast blonden Autorin und ihrer Liebsten sehen! Und dann?
Sterben? Bei den vielen Türen kann mensch sich in der Wohnung ja schon mal verlaufen. Ich habe was gegen Leichen, wenigstens in meiner Wohnung, und deshalb ist diese Tür bei solchen Gelegenheiten auch abgeschlossen. Nach so einem Besuch weiß der heterosexuelle Mensch dann schon wesentlich mehr über die schöne bunte Lesbenwelt. Lesben sind nicht nur blond und dick, sie können gelegentlich auch mal schlank und dunkelhaarig sein – wie die Liebste.
Sie haben was gegen Technik. Sie haben keinen CD-Player und keinen Wäschetrockner. Ihr Fernseher ist kaum größer als ein Dessertteller, ihr Auto uralt und das Geschirr spülen sie von Hand. Nur die elektrischen Lockenwickler, gefunden als die Tür des Badezimmerschränkchens ganz zufällig von alleine aufsprang, passen nicht so richtig ins Bild. Aber vielleicht gehören die ja auch der Oma?
Verwandtschaftlich verbandelte Heten wissen natürlich, dass nicht alle Lesben wie Hella von Sinnen und Cornelia Scheel aussehen und sich benehmen. Sie wissen ganz genau, wie Lesben sind, nämlich wie die Liebste und ich. Schließlich kennen sie uns bzw. eine von uns ja schon einige Jährchen. Zwei nette Frauen, künstlerisch begabt und vom Schicksal gebeutelt. Sie haben ja keinen Mann halten können und klammern sich nun aus Verzweiflung aneinander.
Ist ja auch nichts dagegen zu sagen. Wenigstens meistens. Nur manchmal ein wenig peinlich, wenn von zufällig auf der Straße getroffenen Fremden nach uns gefragt wird. Oder wenn die Lesben Geburtstag haben und außer der Verwandtschaft noch andere Lesben zu Besuch kommen. Das sind dann doch ein bisschen zu viel Lesben auf einmal. Besonders, weil sie alle verschieden aussehen und gar nicht auf den ersten Blick als Lesbe erkannt werden können. Das ist einfach nur anstrengend. Und frustrierend.
Da hat der Schwager über eine halbe Stunde mit einer hübschen Frau geflirtet, und muss ein wenig später beobachten, wie diese mit einer anderen Frau im Flur rumknutscht. Vorsichtig geworden geht er nun allen weiblichen Wesen auf dem Fest aus dem Weg. Und erfährt am nächsten Tag, dass es sich bei der rothaarigen Schönheit im Minikleid um die Quotenhetera unseres Freundinnenkreises gehandelt hatte, und sie durchaus für seine Avancen empfänglich gewesen wäre.
Die Tante wiederum kann trotz mehrmaligen Putzens der Brille nicht eindeutig erkennen, ob die kraftstrotzende Gestalt mit den sehr kurzen Haaren in Jeans und karierten Hemd nun Mann oder Frau ist, und geht diesem Wesen vorsichtshalber aus dem Weg.
Von Geburtstag zu Geburtstag werden deshalb die Ausreden unserer Verwandtschaft, weshalb sie leider nicht persönlich vorbeikommen könnten, zahlreicher und blumiger. Sie müssen ja keine Exotik- und Toleranzpunkte sammeln. Sie haben sie ja schon automatisch und gelegentlich sogar unfreiwillig durch die verwandtschaftliche Beziehung.