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Wütend zwischen feministischen Wellen und keiner Geschichte

Vor Kurzem meldete sich bei mir eine Bekannte, von der ich schon seit Jahren nichts mehr gehört hatte. Wir hatten uns einfach aus den Augen verloren, wie das eben manchmal so passiert. Jetzt war sie, Jahrgang 1944, zufällig auf »Ein Land der vergewaltigten Frauen und der Vergewaltiger« gestoßen und wollte sich ausdrücklich dafür bedanken, dass ich dieses Thema aufgegriffen habe.

 

Bei einem Telefonat ein paar Tage später fragte ich, ob sie denn eine Erklärung dafür habe, weshalb sich nicht einmal die Frauenbewegung in den Siebzigern mit den Millionen vergewaltigter Frauen in unserem Land intensiv beschäftigt hatte. Für ihre Mitstreiterinnen aus jener Zeit könne sie nicht antworten, meinte sie nach einer langen Pause, und nur für sich ganz persönlich sprechen: »Ich wollte nie was davon wissen, weil ich als Dreijährige dabei zusehen musste, wie meine Mutter von einem französischen Besatzungssoldaten vergewaltigt wurde.«

Als ich zum ersten Mal eine solche Geschichte hörte, war ich erschrocken und fassungslos gewesen. Mittlerweile schockiert es mich nicht mehr, ich habe schon viel zu viele davon gehört. Es fing einmal ganz »harmlos« an, in der Triologie »Jauche und Levkojen/Nirgendwo ist Poenichen/Die Quints« von Christine Brückner habe ich erst beim zweiten oder dritten Lesen (in Abständen von mehreren Jahren) begriffen, welche Auswirkungen die Vergewaltigung einer jungen Frau auf der Flucht für ihre damals noch kleinen Kinder hatte. Später kamen Erzählungen von Altenpflegerinnen dazu, je dementer meine Oma wurde, desto mehr Bemerkungen ließ sie fallen und irgendwann hatte ich endlich gelernt, Andeutungen zu verstehen und angefangen, bei bestimmten Gelegenheiten gezielt danach zu fragen – wie in dem Telefongespräch mit der Bekannten.

Nach dem Schweigen und Ignorieren während der Adenaueraera sind viele Dramen, Katastrophen und Auswirkungen der Nazi-, Kriegs- und Nachkriegszeit inzwischen thematisiert, erforscht und zum Teil auch irgendwie aufgearbeitet worden. Das Schicksal der vergewaltigten Frauen gehört bisher nicht dazu, aber auch die Traumata der Kriegskinder wurden sehr lange nicht wahrgenommen. »Seid froh, dass ihr überlebt habt!«, hieß es. »Räumt die Trümmer weg, baut auf, genießt euer Leben! Vergesst einfach, was ihr als Kinder erlebt habt!«.

Und die Kinder der Kriegskinder, zu denen ich zum Beispiel gehöre, fangen erst jetzt langsam an zu begreifen, dass auch wir kriegsgeschädigt sind – obwohl wir doch lange nach dem Krieg auf die Welt kamen. Soweit ich weiß, sind wir noch kein »Gegenstand von Forschung«, wir befinden uns noch in dem Stadium von Selbsthilfegruppen und wenigen Büchern mit Erfahrungsberichten. Sollten schon die Kriegskinder ihre Erlebnisse einfach verdrängen und sich des Lebens freuen, galt das erst recht für ihre Kinder. Wir hatten ja nun wirklich keinen Grund zu meckern, waren wir doch ins Paradies, sprich Wirtschaftswunder, hineingeboren worden.

Ein Phänomen kennen viele aus unserer Generation: Die »heile Welt«. Sie wurde von den Kriegskindern nach dem Krieg aufgebaut, in ihr hat man sich eingerichtet, hinter ihr hat man sich verschanzt. Wir, die Kinder der Kriegskinder, galten mit der Geburt als Stütze dieses Systems. Wir mussten funktionieren, so, wie die Eltern das vorsahen, damit die »heile Welt« heil blieb. Wir wurden geboren, um die seelischen Wunden zu heilen, um zu beschützen. Und wehe, wenn man dann als Kind oder Heranwachsender nicht so funktionierte, wie die Eltern das von einem erwarteten.

Im Zusammenhang mit dem Feminismus tauchen in regelmäßigen Abständen immer wieder Begriffe wie Generationen oder Wellen auf. Dialog der Generationen klingt zum Beispiel wirklich gut und die Wellen können hilfreich dabei sein, bestimmte Themen und Ereignisse zeitlich einzuordnen. Doch wenn »jüngere« (Frauen)Generationen einfach fortführen, was was Anfang der Fünfziger Jahre in Westdeutschland[1] stillschweigend zum allgemeingültigen Konsens erklärt worden ist, wird aus der Weitergabe von feministischer Geschichte und Erfahrungen stellenweise hanebüchener Unsinn.

Jene Bekannte, die sich jetzt überraschend bei mir wieder gemeldet hat, ist zwölf Jahre älter als ich. Sie gehört zur Generation der Kriegs- bzw. Nachkriegskinder, ebenso wie Alice Schwarzer oder Gisela Notz, um einmal zwei weitere Namen von vielen zu nennen. Feministinnen der 2. Welle, mit denen ich in sehr vielen Bereichen nur wenig gemeinsam habe. Ebenso wie zum Beispiel mit zwei meiner Cousinen, die 1944 und 1948 auf die Welt gekommen sind. Meine Lebensrealität entspricht wesentlich mehr der ihrer Kinder, obwohl der Altersabstand zu denen in Jahren größer ist als zu ihnen selbst.

Weder ich noch die sechs Jahre jüngere Liebste oder unsere gleichaltrigen Freundinnen haben dabei zugesehen, wie unsere Mütter vergewaltigt wurden. Ganz im Gegenteil, in unserer Kindheit und Jugend »gab es keine Vergewaltigungen«. In den verklemmten Fünfziger und Sechziger Jahren gab es noch nicht einmal einvernehmlichen Sex und der Nachwuchs wurde vom Storch gebracht. Bomben, Flucht, Hunger, alles (vermeintlich) Dinge außerhalb unserer Verstellungs- und Gefühlswelt. Der große Graben, der Umbruch oder die Trennungslinie, ich weiß selbst nicht, womit sich das am besten bezeichnen ließe, verläuft ungefähr im Jahr 1950 und ist mindestens ebenso gravierend wie der zwischen Menschen, die in der BRD und der DDR aufgewachsen sind.

Zaungäste, Jahrgänge, deren Geschichte ignoriert wird, die je nach Anlass mal hier und mal dort eingeordnet werden, wie es gerade am besten in den Kram passt. Das betrifft sowohl Frauen als auch Männer.

Nur für Frauen gilt: Mal zu den Feministinnen der 2. Welle zu gehören, mal das ganze Feminismusprojekt in den Sand gesetzt haben. Kein Interesse an Social Media zu zeigen, ja manchmal sogar zu blöd fürs Internet gehalten werden …

… während die gleichaltrigen Männer als »junge Väter« durch die Medien geistern und übers Windelwechseln twittern …

… und ein Idiot wie Kachelmann mehr Aufmerksamkeit von Feminist_innen erhält als all die vergewaltigten Frauen in unseren Altersheimen zusammen …

… weil die einen es nicht ertragen, sich mit ihren vergewaltigten Müttern auseinanderzusetzen und die anderen diesen Teil Frauengeschichte schlicht nicht kennen …

… und wir dazwischen viel zu oft viel zu wütend sind, um uns vernünftig zu Wort zu melden …

 


[1] Wie schon ein paar Mal hier betont, von vielen Dingen habe ich keine Ahnung, wie sie in Ostdeutschland verlaufen sind, gehandhabt wurden.

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