Meine Tochter war in der Schule, mein Sohn im Kindergarten, als es klingelte. Ein uniformierter Polizist stand vor Tür. »Bei Bauarbeiten auf der anderen Straßenseite ist eine Fliegerbombe gefunden worden. Sie müssen umgehend Ihre Wohnung verlassen«, teilte er mir mit und wartete, bis ich zwei Kuscheltiere meiner Kinder und mein Köfferchen mit den Dokumenten gefunden hatte.
Die ältere Nachbarin von oben kam leichenblass die Treppe herunter und jammerte laut: »Früher konnten wir wenigstens in einen Luftschutzbunker gehen.« Am nächsten Tag erfuhr ich, dass sie wegen eines Nervenzusammenbruchs in ein Krankenhaus eingeliefert worden war. Meine Kinder machten mir lautstarke Vorwürfe, weil ich in der Aufregung die Meerschweinchen vergessen hatte.
Einige Jahre später hörte ich im Radio, dass in dem Stadtteil, wo meine Oma wohnte, ebenfalls bei Bauarbeiten eine Fliegerbombe gefunden worden war. Erst viele Stunden danach konnte ich sie telefonisch erreichen. Sie war mit ihrem Köfferchen zum Bahnhof gegangen, nachdem die Polizei sie beinah schon mit Gewalt aus ihrer Wohnung geholt hatte. »Ich habe gedacht, nun ist alles futsch und wollte mal gucken, wohin ich fahren kann«, erklärte sie mir.
Gestern ist in Göttingen eine Fliegerbombe explodiert. Es war bereits der zweite Fund innerhalb weniger Tage gewesen und angeblich soll sich auf dem Gelände noch eine weitere befinden. Selbst 65 Jahre nach Kriegsende werden in Deutschland immer noch einmal pro Woche Fliegerbomben ausgegraben. Fachleute schätzen, dass noch Tausende dieser Blindgänger in der Erde schlummern und theoretisch könnten sie jederzeit explodieren.
Erst seit Kurzem werden Altenpfleger_innen in ihrer Ausbildung drauf vorbereitet, dass es bei dementen Frauen, die derzeit in den Pflegeheimen sind, ein besonderes Problem gibt: Sie wurden bei Kriegsende vergewaltigt und regieren voller Panik, wenn man den Versuch macht, sie auszuziehen. Wirkliche Lösungen für dieses Problem gibt es meines Wissens bisher noch nicht. Eine Bekannte meinte: »Letztendlich müssen wir wieder Gewalt anwenden, denn man kann diese Frauen ja nicht völlig verdrecken lassen.«
Erzählungen über Bombenangriffe, Tote, Flucht und plötzlich verschwundene Nachbarn waren in meiner Kindheit Normalität. Je nach Zusammensetzung am sonntäglichen Kaffeetisch wurde mal mehr über das eine oder das andere geredet. Doch beinah ausnahmslos landeten die Gespräche immer bei Angst und Gewalt.
Lange Zeit hatte ich den Eindruck, ich sei die Einzige, bei der diese alten Geschichten Spuren hinterlassen haben. Regelmäßig träume ich von Soldaten, die das Haus meiner Großeltern durchsuchen – dabei wurde dieses erst nach dem Krieg gebaut. In den letzten Jahren jedoch haben mir Gleichaltrige von ähnlichen Albträumen erzählt. Bei einer Frau traten während der Wechseljahre zum ersten Mal unerklärliche Panikattacken auf. Mittlerweile ist sie davon überzeugt, dass die Anfälle mit den Kriegserzählungen während ihrer Kindheit zusammenhängen.
Dass Menschen, je älter sie werden, immer mehr auf ihr Langzeitgedächtnis zugreifen und sich intensiv an ihre Kindheit erinnern, ist allseits bekannt. Die Generation, die jetzt alt wird, ist im Dritten Reich aufgewachsen.
Gemeinsam mit einer Nachbarin wartete ich auf einen Handwerker. Wir saßen in meinem Wohnzimmer, unterhielten uns über das Wetter, als sie plötzlich völlig zusammenhangslos meinte: »Ich kann Juden übrigens nicht leiden.« Fassungslos wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte und vermied danach jedes Zusammentreffen.
Bei einem befreundeten Pärchen war die Mutter/Schwiegermutter zu Besuch und gemeinsam kamen sie an einem Nachmittag zu Kaffee und Kuchen. »Ich bin übrigens in Dachau aufgewachsen«, erzählte die Frau, während sie ihr drittes Stück Kuchen aß. »Da hat es nie ein KZ gegeben. Das haben die Juden nur erfunden, weil sie Geld von uns haben wollen.«
Mir hatte es gefallen, als bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 junge Deutsche mit den Farben Schwarz/Rot/Gold locker und unbeschwert umgingen. Wie bei den anderen Nationen gab es Fahnen, Perücken und Schminke. Zum ersten Mal konnte ich diese Dinge sehen, ohne dabei gleich an Nazis denken zu müssen.
Vier Jahre hat bei mir diese Unbeschwertheit angehalten, bis letztes Wochenende Lena den ESC gewann und mit einem grauslichen Kränzchen in den Nationalfarben auf dem Kopf aus dem Flugzeug stieg, während über Twitter üble antisemitische Sprüche verbreitet wurden, weil es aus Israel keine Punkte gegeben hatte.
Zwei Tage später nach dem Angriff der israelischen Armee auf die Hilfsflotte wurde dieser Mist noch getoppt und heute wird eine Politikerin mit Hitler verglichen, weil sie bezüglich der Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet eine Meinung vertritt, die vielen Leuten nicht in den Kram passt, nebenbei: mir auch nicht.
Solange in diesem Land Greisinnen glauben, gerade vergewaltigt zu werden, ältere Menschen in ihre Nazikindheit zurückfallen, Jüngere eine Meinung zu einem bestimmten Thema mit Millionen Toten und unendlicher Zerstörung gleichsetzen, meine Generation unter Panikattacken leidet und eine Horde von Idioten die Politik des Staates Israel zum Anlass nimmt, Antisemitismus zu verbreiten, kann von einer Aufarbeitung der Vergangenheit oder gar einem Vergessen, »weil es doch schon so lange her ist«, keine Rede sein.