Ein Landschulheim in Südtirol in den siebziger Jahren. Die Herbergseltern sind nett, das Essen einigermaßen genießbar, nur die Stockbetten mit den durchgelegenen Matratzen sind eine Katastrophe.
Wir Mädchen, oder wie es heute politisch korrekt heißen würde: wir jungen Frauen, sitzen alle neben-, über- und untereinander in einem Zimmer und malen uns unsere Zukunft aus. Nicht unsere Berufliche, nein bewahre, über unsere zukünftigen Schlafzimmer reden wir. Angesichts der Betten wahrscheinlich kein überraschendes Thema. Mein Traum: ein Zimmer ganz in Blau mit einem großen runden Bett für mich allein, ohne weitere Möbel.
»Und wo schläft dein Mann?« fragt eine.
Mann? Was denn für ein Mann? Ich bin verwirrt und sage das, was mir als erstes in Kopf schießt. »Der kann schlafen, wo er will, aber nicht in meinem Schlafzimmer!«
Einige lachen, andere sind regelrecht empört. »Der arme Mann, der mal mit dir leben muss«, heißt es und spielt nicht nur auf meine Bemerkung von eben an.
Es ist eine andere Zeit als heute. Keine von uns denkt an ein Leben ohne Mann an ihrer Seite – ich auch nicht. Wir sind zwar bereits feministisch genug, um zu wissen, dass Frauen und Männer gleichwertig sind, und zweifeln nicht an dem Sinn einer Berufsausbildung. Doch ein Ehemann erscheint uns selbstverständlich wie Weihnachten am 24. Dezember.
Oder? Nach jenem Gespräch ging mir zum ersten Mal auf, dass ich mir eigentlich ein Leben mit einem Mann gar nicht vorstellen konnte. Ein Haus mit Garten, Kinder, Hunde und Katzen, ja. Aber ein Mann? Trotzdem sollte es bis zu meinem Coming Out noch beinah fünfzehn Jahre dauern.
In den nächsten Jahren verloren wir uns allmählich aus den Augen. Anfangs trafen wir noch ab zu die eine oder den anderen und tauschten Informationen aus. Die Interessen veränderten sich, die Lebensumstände wurden immer unterschiedlicher, wir verstreuten uns in alle Himmelsrichtungen.
Mehr als dreißig Jahre später klingelt das Telefon. Die Liebste nimmt ab und an ihrem leicht fragend erstauntem »Ich muss mal sehen, ob sie da ist.« höre ich schon, es muss ein ungewohnter Anrufer sein.
»Hallo, hier ist der Franz-Friedrich«, sagt eine Männerstimme und obwohl ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gehört habe, weiß ich sofort, wer Franz-Friedrich ist. »Deine Mutter hat mir deine Telefonnummer gegeben. Wir planen ein Klassentreffen «
Uiiiiiiii, so was. »Hast du eine Email Adresse?« fragt er. »Damit ich dir das Rundschreiben schicken kann.«
»Email Adresse?« wiederhole ich gedehnt und versuche mir, darüber klar zu werden, wie ich diesen Anruf überhaupt finden soll. Ich muss leicht verwirrt geklungen haben.
»Du hast doch bestimmt einen Internetanschluss, oder nicht?« Er klingt geduldig und hört sich an, als wolle er mir gleich erklären, was das Internet ist.
»Äh, klar habe ich einen Internetanschluss. Meine Mailadresse ist «
Jetzt ist er verwirrt. Ich muss es buchstabieren. »Was ist das denn für eine Adresse?«
Und nun? Nun schwirrt in Bruchteilen von Sekunden alles durch meinen Kopf, was ich je zum Thema Outing gesagt, getan, gelesen, geschrieben habe. Ganz einmal abgesehen von den Workshops für verzweifelte Landlesben und ihre Frage, ob sie sich outen sollen.
»Weißt du, lieber Franz-Friedrich, inzwischen bin ich lesbisch geworden «
Nee, das nun doch nicht. Stattdessen empfehle ich meine Website und sage, dort würde er die nötige Erklärung finden. Wir tauschen noch ein paar Höflichkeiten aus und er verabschiedet sich mit den Worten: »Jetzt ist die Liste beinah vollständig. Nur Herbert Ypsilon kann ich einfach nicht finden.«
Wer bitte? Ich kenne keinen Herbert Ypsilon und kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, mit ihm zusammen zur Schule gegangen zu sein.
»Ob du von Franz-Friedrich noch mal was hörst?« Die Liebste grinst und fragt neugierig: »Wirst du zu diesem Klassentreffen gehen? Natürlich vorausgesetzt, du bist nach dem Lesen der Webseite dort immer noch erwünscht.«
Ich kann ihr die Frage nicht beantworten. Darüber muss ich erst nachdenken. Lange nachdenken. Der Anruf kam zu überraschend und erinnerte an eine Zeit, die ich längst in dem hintersten Stübchen meines Gedächtnisses unter viel Müll und Schrott in der Rubrik Unwichtig vergraben hatte.
Da wollten sich Leute treffen, die nur eines gemeinsam hatten: ein paar Schuljahre. Schon damals waren sie so unterschiedlich, dass sie viele kleine Grüppchen bildeten, sich außerhalb der Schule möglichst aus dem Weg gingen und an gemeinsamen Freizeitaktivitäten nur unter Androhung von Zwangsmaßnahmen teilnahmen.
Dreißig Jahren später sind sie plötzlich ganz wild darauf, sich wiederzusehen und scheuen dafür weder Kosten noch Mühe. Warum nur? Wollten sie wissen, ob die Blondine aus der letzten Bank mittlerweile wider Erwarten noch einige Gehirnzellen aktivieren konnte? Welchen Lebensweg der Klassenclown eingeschlagen hat und ob die Klassenbeste tatsächlich die Karriereleiter hochgeklettert ist?
Mir fällt ein Lied der Mannheimer Liedermacherin Joana ein: Ja, so ein Klassentreffen und ich erinnere mich an einen, nein zwei Krimis, dann sogar drei Krimis, deren Ausgangspunkt für Mord, Totschlag, weitere Brutalitäten und Seelenstriptease ein Klassentreffen ist.
Die Liebste kann mein Zögern nicht verstehen. Sie findet Klassentreffen klasse und amüsiert sich dabei immer köstlich. »An wen oder was erinnerst du dich denn noch?« will sie von mir wissen.
Ich lasse die Mädchen und Jungen aus meiner Klasse Revue passieren. Ich sehe einige Gesichter vor mir, aber mir wollen partout keine Namen dazu einfallen. Und andersherum: Ich erinnere mich an Namen, nur die dazugehörenden Gesichter wollen sich einfach nicht einstellen.
Doch schließlich lebe ich auf dem Land mit Verwandtschaft in der Region. Die Schule war und ist heute immer noch in einer Kleinstadt, die sich zwar nach der Zwangseingemeindung mehrerer viele Kilometer entfernter Dörfer großspurig Große Kreisstadt nennt, aber dennoch eine Kleinstadt ist, wo für die Eingeborenen immer noch der Satz gilt: »Jede kennt jeden.« Zudem haben wir die Lokalzeitung abonniert. Beinah schon zwangsläufig ist auch bei mir in den letzten Jahrzehnten einiges angekommen.
Über A habe ich drei verschiedene Gerüchte gehört. Sie soll tot sein. Sie soll in Amerika leben. Sie soll auf den Strich gehen. Die Liebste nickt wissend und übersetzt. Sie hat ja Erfahrung mit Klassentreffen: »A wohnt in Vordertupfingen, hat drei Kinder und eine halbe Stelle als Pastorin.«
B hat einen Eskimo geheiratet. Oder einen Mongolen. Oder einen Pygmäen. Nach der Logik der Liebsten ist der Ehemann wahrscheinlich über zwei Meter groß, strohblond und hat blaue Augen.
Von C habe ich vor einigen Jahren eine Anzeige in der Lokalzeitung gelesen. Er gab die Neueröffnung seiner Praxis bekannt. Psychiater ist er geworden. Ihn will ich eigentlich auf keinen Fall wiedersehen. Psychiater sind mir unheimlich. Auch wenn ich sie bereits als durchgeknallte Jugendliche kannte.
Ähnliches trifft auf D zu, einen Zahnarzt. Mehr muss ich bestimmt nicht dazu sagen.
Zu E ist der Kontakt nie ganz abgerissen. Er hat das Haushaltswarengeschäft seines Vaters am Marktplatz übernommen und behauptet sich noch immer tapfer gegen die Konkurrenz der Einkaufszentren auf der grünen Wiese. Ungefähr einmal im Jahr gehen die Liebste und ich dort einkaufen. Immer, wenn wir auf der Suche nach eigentlich normalen Dingen sind, die aber heutzutage nicht mehr zum Sortiment der Großen gehören. Wie Pralinengabeln zum Beispiel. Oder eine bestimmte Sorte von Backförmchen.
Auch unseren Trolli verdanken wir ihm. Alle Jahre wieder hatten wir vor der Buchmesse einen neuen Trolli gekauft. Labbeduddlige, wie die Liebste das im hiesigen Dialekt zu bezeichnen pflegt, Dinger, die nichts aushielten. Ihr Gestänge verzog sich, brach zusammen, die Räder waren platt oder sprangen davon. Erst der Trolli von E, billiger als alle bisherigen, dafür aber mit Beratung gekauft und Garantie versehen, hat nun bereits die Last der Papierberge bei vier Buchmessen ausgehalten. Leider scheint das Geschäft keine Webseite zu haben. Doch es wird in einem Forum erwähnt. Das habe ich mittlerweile nicht nur unter den Lieblingen verlinkt, sondern dort auch ein Lob hinterlassen.
Franz-Friedrich ist Apotheker geworden, hat zwei Kinder und lebt mit F, ebenfalls einer Klassenkameradin, zusammen. Amüsiert erinnere ich mich wieder daran, wann das mit den beiden begonnen hat: auf einer Party bei mir. Selbst meine Mutter erzählt noch manchmal von dem knutschenden Pärchen vor der Badezimmertür.
Auch von G, H, I, J, K habe ich wenigstens gerüchteweise gehört. Weitere Informationen hole ich mir aus dem Internet, die die Gerüchte teils bestätigen, teils absurd erscheinen lassen.
Zu L ist die Verbindung eh nie ganz abgebrochen. M meldet sich, nachdem Franz-Friedrich eine Mailadressenliste rumgeschickt hat. Bei N wiederum melde ich mich ganz spontan, ärgere mich dann über die nichtssagende Antwort und weiß nicht einmal genau, warum.
Allerdings lesbisch oder schwul scheint keine und keiner außer mir zu sein. Dabei müssten laut Statistik mindestens zwei weitere zu finden sein. Tja .